Die Angst vor dem Pöbel

Samstag, 27. Februar 2010 um 15:52 - futziwolf
Verzicht auf Arbeit muss sich wieder lohnen Teil 2
... Gott brachte die schweißtreibende Arbeit als Strafe über den Menschen.
Liebe Schwester Westerwelle,
folgenden Abschnitt aus George Orwells Erlebnissbericht "Down and Out in Paris and London" möchten wir ihrem Engagement für die Vollbeschäftigung widmen:
>>  Wenn wir annehmen, das die Arbeit [im Original: eines plongeur, also Tellerwäschers] mehr oder weniger unnötig ist,
dann erhebt sich die Frage: Warum wollen einige, daß er seine Arbeit überhaupt weitermacht? Ich versuche über den
naheliegenden wirtschaftlichen Grund hinauszugehen und mich zu fragen, was für eine Art von Vergnügen es irgend
jemandem machen kann, sich Menschen vorzustellen, deren Lebensinhalt z.B. das Schrubben von Geschirr ist.
[oder irgendeiner anderen stumpfsinnigen 78h-Tätigkeit, die einen noch nicht mal ernähren kann] Denn es besteht
kein Zweifel daran, daß Menschen - solche, denen es sehr gut geht - ihr Vergnügen daran haben.
Ein Sklave, sagte Marcus Cato, sollte arbeiten, wenn er nicht gerade schlafe.
Es käme nicht darauf an, ob seine Arbeit gebraucht würde oder nicht - er habe einfach zu arbeiten,
denn Arbeit sei a prori gut - zumindest für Sklaven.
Diese Einstellung existiert noch heute, und sie hat ganze Berge unsinniger Plackerei hervorgebracht.

Ich glaube, daß dieser Instinkt, unsinnige Arbeit immerwährend weiter zu erhalten, im Grunde der Angst vor dem Pöbel
entspringt. Der Pöbel (so wird angenommen) bestünde aus solch niederen Tieren, daß diese gefährlich werden
könnten, wenn sie nichts zu tun hätten; es sei mithin sicherer, sie zu beschäftigen, als sie auf dumme Gedanken
kommen zu lassen. Ein reicher Mensch, der zufällig auch noch intellektuell aufrichtig ist, sagt, wenn man ihn
zu dem Problem der zu verbessernden Arbeitsbedingungen befragt, für gewöhnlich etwa Folgendes:

 "Wir wissen, das Armut nichts Schönes ist; tatsächlich zermartern wir uns; weil sie für uns so weit entfernt ist,
bei dem Gedanken an ihre Häßlichkeit. Aber erwarten Sie nicht, daß wir irgend etwas dagegen zu tun gedenken.
Wir empfinden für Euch niedere Klassen Bedauern, genauso, wie wir Bedauern für eine räudige Katze empfinden,
aber wir werden wie die Berserker gegen jede Verbesserung Eurer Verhältnisse kämpfen.
Wir spüren, daß Ihr viel sicherer seid,wie ihr jetzt seid. Der gegenwärtige Zustand gefällt uns, und wir werden nicht
das Risiko eingehen, Euch zu befreien; noch nicht einmal durch eine Stunde mehr Freizeit am Tag.
Also, liebe Brüder, da es klar ist, daß Ihr schwitzen müßt, um unsere Reisen nach Italien zu finanzieren,
schwitzt weiter so und fügt Euch der Verdammung."

Die ist besonders die Einstellung intelligenter, kultivierter Leute; in Hunderten von Essays kann man den Tenor
dieser Einstellung wiedererkennen. Sehr wenige kultivierte Menschen haben, sagen wir, weniger als
vierhundert Pfund im Jahr, und natürlich identifizieren sie sich mit den Reichen, den sie stellen sich vor,
daß jede Freiheit, die sie den Armen zugestehen, eine Bedrohung ihrer eigenen Freiheit sei.
Indem er ein düsteres marxistisches Utopia als Alternative voraussieht, bevorzugt es der Gebildete,
die Dinge so zu belassen, wie sie sind. Möglicherweise schätzt er seine reichen Standesgenossen nicht sehr,
aber dennoch setzt er voraus, daß sogar der gewöhnlichste unter ihnen für seine Vergnügungen weniger
gefährlich sei, ihm näher, als der Arme, und daß er besser zu seinesgleichen zu stehen habe.

Es ist die Angst vor dem vermeintlich gefährlichen Pöbel, die fast jeden intelligenten Menschen in seinen
Überzeugungen zum Konservativen macht. <<

aus George Orwell - Meistererzählungen - "Erledigt in Paris"
diogenes ISBN 3-257-21935-0




Trackbacks

    Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: (Linear | Verschachtelt)

    Noch keine Kommentare


Kommentar schreiben


Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.
Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

BBCode-Formatierung erlaubt