"Europa setzt auf schauerliche Abwehrstrategien"

Montag, 14. Februar 2011 um 21:51 - futziwolf
Interview zur Flüchtlingslage
Das Flüchtlingsdrama auf der italienischen Insel Lampedusa ist als Abschreckung politisch gewollt, wie der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins borderline-europe, Bierdel, meint. Im Interview mit tagesschau.de prangert er das Vorgehen der EU an und fordert ein Umdenken in der Flüchtlingspolitik. >>> tagesschau.de

tagesschau.de:
Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage auf Lampedusa?

Elias Bierdel:
Uns überrascht es nicht, dass jetzt verstärkt Boote kommen. Es ist
vollkommen klar, dass nach dem Ende des bisherigen Schreckensregimes in
Tunesien auch zusammenbricht, was die EU mit den
Mittelmeer-Anrainerländern ausgehandelt hat - nämlich, dass sie
gefälligst für uns die Grenzen dicht machen.
Auf Lampedusa herrscht zurzeit Chaos, was auch politisch gewollt
ist seitens der italienischen Regierung. Sonst hätte sie umgehend die
dort bereitstehenden Einrichtungen öffnen können. Es gibt hier eine
Strategie der Abschreckung. Man versucht, Menschen in eine unwürdige
Situation hineinlaufen zu lassen, um andere davon abzuhalten, es ihnen
gleichzutun. Das ist nur ein Teil der Abwehrstrategien Europas, aber ein
besonders schauerlicher.

"Wilde Horden sind eine europäische Wahrnehmung"

tagesschau.de: Ist denn der Zusammenbruch des Regimes der Hauptgrund für den Flüchtlingsstrom?

Bierdel:
Ich würde den Begriff "Flüchtlingsstrom" so nicht benutzen. Es ist
eine europäische Wahrnehmung, dass da wilde Horden sitzen, die nur
darauf warten, hier herüberzukommen. Es gibt in der Tat einen
Auswanderungsdruck, und der steigt auch über die Jahre. Für mich wäre
der richtige Schritt, darüber nachzudenken, wie weit auch europäische
Staaten und die EU Fluchtgründe schaffen.
Die EU ist speziell in Afrika unmittelbar am Fortdauern der
dortigen Elendsverhältnisse beteiligt. Zum einen durch äußerst unfaire
Handelsbeziehungen, wo Preise gezahlt werden, die weit unter den
Welthandelspreisen liegen. Zum anderen kippen wir unsere
Überschussproduktion auf die Märkte. Das ist vor allem in Westafrika der
Fall, wo subventionierte Lebensmittel der EU, die man früher hier
vernichten musste, dort so billig auf die Märkte gelangen, dass sie die
Strukturen der einheimischen Landwirtschaft zerstören. Zudem überfischen
wir die Gewässer vor der westafrikanischen Küste, so dass die Menschen
dort einfach keine Fische mehr fangen können.
Und am Ende kommt
nun auch noch der Klimawandel auf bestimmte Zonen Afrikas zu. Da müssen
wir uns doch fragen: Wer ist dafür verantwortlich? Ganz sicherlich nicht
der afrikanische Kontinent, der nicht einmal mit fünf Prozent an der
Emission von Treibhausgasen beteiligt ist. Wir müssen uns fragen: Wie
gehen wir nun um mit denen, die einen Anteil am Reichtum der Welt suchen
oder die in ihren Heimatregionen nicht mehr bleiben können, weil wir
sie dort vertrieben haben?

"Die europäische Politik steht kurz vor dem Offenbarungseid"

tagesschau.de: Wie geht die EU denn bislang damit um?

Bierdel
: Sie übt massiven Druck auf die
Mittelmeer-Anrainer im Süden aus, um sie dazu zu zwingen, uns diese
vermeintliche Last vom Hals zu halten. Die EU und speziell Italien haben
es sich viel Geld kosten lassen, zu verhindern, dass Menschen ihre
Ursprungsländer verlassen. Wenn man dieses menschenrechtlich äußerst
sensible Feld in die Hand gibt von Leuten wie dem libyschen Staatschef
Muammar al Gaddafi, dann darf man sich nicht wundern, wenn Menschen in
irgendwelchen Foltercamps verschwinden, dort vergewaltigt oder
erschlagen werden.
Die europäische Politik steht kurz vor dem
Offenbarungseid, wenn sie einen libyschen Diktator zu ihrem
Menschenrechtsbeauftragten an der Südgrenze ernennt. Der
EU-Afrika-Gipfel vor wenigen Monaten in Tripolis hat nochmal gezeigt,
dass Gaddafi rund 30 Milliarden Euro für seine Dienste an der Südgrenze
haben möchte, und es steht zu befürchten, dass er die auch bekommen
wird. Ich halte das für eine schändliche Vereinbarung.

tagesschau.de: Ist das Vorgehen in Tunesien vergleichbar gewesen?

Bierdel:
In Tunesien ist das nicht ganz in dieser Härte abgelaufen, aber es
handelte sich auch um eine Diktatur, die technisch aufgerüstet wurde, um
Menschen mit Gewalt daran zu hindern, einen Hafen zu verlassen. Ich
habe mir das ansehen können: Es gab ein engmaschiges Netz der Kontrollen
über den Häfen in Tunesien. Es war praktisch nicht mehr möglich,
unentdeckt dort abzufahren - und das war genau die Intention der EU.

"Völkerrechtswidriges Handeln im großen Stil"

Ob aber unter den Menschen, die da hätten losfahren wollen, vielleicht
welche waren, die mit völligem Recht bei uns in Europa Schutz und Hilfe
hätten suchen können, das wissen wir auf diese Weise eben nicht, weil
wir sie pauschal daran hindern, in ein Boot zu steigen. Allerdings ist
es laut Genfer Flüchtlingskonvention völkerrechtswidrig, Gruppen von
Menschen pauschal daran zu hindern, bei uns um Asyl zu bitten. Aber
genau das passiert im großen Stil.

tagesschau.de: Wie geht die EU selbst vor, wenn die Menschen erst einmal in den Booten auf dem Weg nach Europa sitzen?

Bierdel:
Sie hat bis heute kein einheitliches Asylrecht für Menschen, die bei
uns Schutz und Hilfe suchen. Stattdessen hat sie sich nur auf gemeinsame
Abwehrmaßnahmen verständigt, in Gestalt der EU-Agentur Frontex zur
Koordinierung der Schutzmaßnahmen an den Außengrenzen, die mit
gemeinsamen Operationen im Mittelmeer unsere europäischen Küsten
abschirmt.
Da geht es im Mittelmeer besonders schauerlich zu. Die
Opferzahlen sind amtlich nicht erhoben, es gibt keinen einzigen
europäischen Beamten, der sich mit dieser Frage beschäftigt, das tun
ausschließlich NGOs. Dokumentiert sind über die vergangenen 15 Jahre
circa 16.000 Tote an den europäischen Außengrenzen. Die Europäische
Kommission geht von drei- bis viertausend Toten pro Jahr aus.

"Am Ende sind von 79 Menschen gerade noch fünf am Leben"

Gerade im Seegebiet vor Lampedusa werden Menschen in Booten hin- und
hergeschoben, keiner will sie haben. Am Ende sind dann zum Beispiel von
79, die losgefahren sind, gerade noch fünf am Leben, die anderen sind
unterwegs verdurstet, unter den Augen europäischer Beamter. Aber bisher
hat das nicht zu dem großen Aufschrei geführt, den ich für angemessen
halten würde.
Bis Anfang der 90er-Jahre gab es gar keine
Visabestimmungen, keine Probleme, keine Einschränkungen für die
Überfahrt übers Mittelmeer. Da konnte jedes Boot hin- und herfahren, wie
es wollte. Warum Europa gerade in den vergangenen Jahren versucht, sich
als Wohlstandsfestung abzuschotten, ist ganz schwer nachzuvollziehen.
Die Entscheidung dazu ist von keinem Parlament getroffen worden, das hat
sich so entwickelt.

tagesschau.de: Was könnte Europa denn statt der bisherigen Maßnahmen tun?

Bierdel: Wir brauchen in Europa Zuwanderung und wir werden sicherlich in kurzer Zeit
dazu kommen - in der Wirtschaft gibt es bereits entsprechende Signale
-, eine solche auch zu erlauben. Viele Spezialisten sagen, warum sehen
wir diese Migrantionsbewegungen nicht als Chance? Als Chance, unsere
Bevölkerung zu verjüngen, als Chance, Menschen zu haben, die bereit
sind, sich einzusetzen und die möglicherweise hier auch gebraucht
werden.

"Flüchtlinge müssen über die EU verteilt werden"

Dringend erforderlich ist, dass Europa einen gemeinsamen
Mechanismus findet, mit diesen Menschen umzugehen und ihre Anliegen zu
prüfen. Zum Beispiel, indem man sie über die europäischen
Mitgliedsländer verteilt und dort entscheidet, wer hat Anrecht auf Asyl,
wen wollen wir als Migranten hier zulassen. So lange es diese
innereuropäische Solidarität nicht gibt, werden sich immer wieder an den
Außengrenzen die Verhältnisse so dramatisch zuspitzen.

tagesschau.de:
Wie wird es kurzfristig weitergehen auf Lampedusa?

Bierdel:
Nach
dem, was ich sehe, kann man momentan die Bewegung von Booten nicht
stoppen. Das erschöpft sich aber irgendwann, das ist jetzt so eine
Welle. Ich warne noch einmal vor dem Eindruck, dass es einen plötzlichen
Ansturm gibt: Wir beobachten seit vielen Jahren eine konstante Bewegung
hin auf die EU. Und das vor allem auf legalem Weg: Die überwiegende
Zahl sogenannter illegaler Migranten reist nicht auf dem Seeweg, sondern
ganz legal beispielsweise über Flughäfen mit einem Visum ein, verlässt
das Land dann aber nicht wieder.

"Botschafter der Ungerechtigkeit"

Hier ist viel Propaganda im Spiel und viel Heuchelei auf Seiten der EU, die
am liebsten die Augen verschließen möchte davor, wie weit sie selbst
schuldhaft verstrickt ist, wenn es darum geht, dass Menschen ihre Heimat
verlassen.
Der katholische Priester Herbert Leuninger, ein
Mitbegründer von ProAsyl, nannte die Menschen in den Booten "Botschafter
der Ungerechtigkeit". Die, die da kommen, bringen uns eine Botschaft,
die lautet: "Diese Welt ist ungerecht aufgeteilt!" In der Verantwortung
dafür stehen vor allem die entwickelten Länder. Und damit vor allem die
EU.
Das Interview führte Johanna Bartels, tagesschau.de.

Zur Person:
Elias Bierdel ist
Vorstand des Vereins "borderline europe - Menschenrechte ohne Grenzen
e.V.", den er 2007 gründete. Zuvor war der gebürtige Berliner erst
Projektmitarbeiter und später Vorsitzender der Hilfsorganisation Cap
Anamur. Bierdel lebt heute als Autor und Journalist im Burgenland in
Österreich.



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