3 neue short stories von Rüdiger Saß

Mittwoch, 5. Oktober 2016 um 17:57 - futziwolf

Eine Schabengeschichte
Ein, ein Aus-, ein Ausflug, einer ...
Auf ein Wiedersehen

Eine Schabengeschichte
I.
Es dämmerte bereits, als Professor Peinschweiß sein Haus verließ. Er musste sich beeilen, wenn er rechtzeitig zur Universität, ins Historische Seminar kommen wollte, wenn er sich bei seiner eigenen Vorlesung nicht verspäten wollte. Fünfzehn bzw. fünfundzwanzig Minuten Fußweg lagen vor ihm, fünfzehn, wenn er hetzen, und fünfundzwanzig, wenn er schlendern würde. Zwirnbart Peinschweiß wusste, was er wollte. Er entschied sich fürs Schlendern, fürs Bummeln, denn es war ein feuchtwarmer Spätsommerabend, ein Wetter, das er liebte. Außerdem hasste er Hetzerei und Aufregung, er hasste übertriebene Betriebsamkeit.

Das Haus des Professors war alt, hundertjährig, ein Bauwerk im Originalzustand. Es stach aus seiner Umgebung heraus, aus einem Verein geputzter Vorortvillen. Ehrlich gesagt war das Haus eine Ruine, aber niemand in der Stadt war ehrlich, kein Bauamtsbeamter, kein Vorortphilister; niemand wagte, sich aufzuregen, weder über die zerschlagene Fassade oder das löchrige Dach noch über den Garten, der einer Wildnis, einem Urwald glich. Zwirnbart Peinschweiß war ein geachteter Mann, kein dahergelaufener Hochschullehrer, sondern ein Gelehrter, ein Weltweiser. Das zeigte schon sein Äußeres. Lange, zerzauste Haare verrieten das schlampige Genie, den Denkerkönig. Er galt als „Der große Ungewaschene“, der, der immer im selben Anzug steckte, in einem braunen Jackett und einer braunen Hose, von denen es hieß, dass sie einmal weiß gewesen wären. Sein Ruhm ruhte auf einer dreißigbändigen Weltgeschichte, auf einem Meisterwerk, mit dem er den Nerv seiner Zeit traf, das Bedürfnis der Menschen nach einfachen, klaren Antworten, ihre Sehnsucht nach einem sicheren, geordneten und übersichtlichen Leben in einer sicheren, geordneten und übersichtlichen Welt.

In seinem Werk verhalf Zwirnbart Peinschweiß der guten alten Bibel wieder zu ihrem angestammten Recht. Er bewies ihre unumstößliche Wahrheit und mit ihr die Irrlehren der Naturwissenschaften und ihrer Jünger. Demnach schuf der HERR die Welt im Jahre dreitausendneunhundertvierundachtzig vor unserer Zeitrechnung und zwar in sechs Tagen. Am siebten Tag aber ruhte er aus. Das gefiel dem Professor und auch seine Leser, die Philister und ihre Führer, waren zufrieden. Nur in einem wich der Peinschweiß von der Heiligen Schrift ab, nämlich im letzten Kapitel. Dort blickte er in die Zukunft, auf das Ende, auf die Verheerung der Welt. Dort kam der Antichrist als Schabe daher, als platt gedrückter Insektenkönig, als Heerführer zahlloser Kakerlaken, mit denen er über die Philister herfiel.


Die Offenbarung war auch das Vorlesungsthema an diesem Abend. Und nicht nur an diesem. Alle seine Vorlesungen und auch sämtliche Seminare drehten sich nur um dieses Thema, zweiundzwanzig Jahre lang, vierundvierzig Semester! Deshalb wundert es wenig, dass nur eine Studentin auf den Peinschweiß wartete, ein junges, dummes Ding, das sich im Auditorium Maximum verlor. Das Ende der Welt hatte den Reiz der Neuheit verloren, alle schienen davon unterrichtet zu sein, alle bis auf Peri Planeta, das junge, dumme Ding. Keine Frage, Professor Zwirnbart Peinschweiß ruhte sich auf seinem Ruhm aus. Seine „Weltgeschichte“ wirkte wie ein Schutzschild.
Niemand wagte am Amt oder an der Würde des Professors zu rütteln, niemand, weder Bildungsbürger noch Bauamtsbeamte oder Vorortphilister. Professor Peinschweiß konnte machen, was er wollte. Er stellte sich ans Rednerpult, öffnete seinen alten Lederranzen und fingerte ein zerlesenes Manuskript hervor. Dann schlug er es auf und begann zu lesen, laut vorzulesen. Seine Worte schossen durch den Saal, es dauerte, bis sie von den Wänden des Auditoriums Maximum zurückgeworfen wurden. „Und ich sah“, sagte er, „ich sah, dass das Lamm der Siegel eines auftat; und ich hörte der vier Tiere eines sagen wie mit einer Donnerstimme: Komm! Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd, und der darauf saß, hatte einen Bogen; und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus sieghaft und dass er siegte.“

II.
Mit der Abenddämmerung kommt Bewegung in das Peinschweißhaus, mit der Dämmerung kommen die Kakerlaken aus ihren Hütten und Palästen. Hunger und Durst treiben sie hinaus, Hunger und Durst nach Nahrung, nach Bewegung. Sie mischen sich unters Volk, unter ihresgleichen, denn sie sind keine Einzelgänger. Sie wollen sich zeigen, sie wollen beachtet werden, sie wollen geachtet, geliebt und bewundert werden. Auch Schlaraffia, die Schabenschönheit, lässt sich sehen, sich und ihre vierzig Kinder. Bevor sie schwanger wurde, wollten alle mit ihr schlafen, alle wollten mit ihr gehen. Dann kam, sah und nahm sie Vollproll, der Vizekönig. Er nahm Schlaraffia, die Schabenschönheit, einfach so, ohne vorher zu fragen. Zuerst nahm er sie - vor aller Augen, in aller Öffentlichkeit! - und dann, nach Gebrauch, warf er sie weg, wie ein altes Kaugummi, wie eine aufgerauchte Zigarette. Ihr Ruf war ruiniert, ihre Ehre, ihr guter Name lag im Rinnstein, im Dreck. Über Nacht verlor sie ihre Unschuld, ihre Schönheit, jedenfalls im Volksmund. Jetzt ist sie die Schabenschlampe, die Hure, die es mit jedem treibe. Niemand, der sich um seinen Ruf sorgt, um seine Ehre, seinen guten Namen, will sich mit ihr abgeben, niemand grüßt sie, niemand außer Kargus Karell, das schratige Schneiderlein. Kargus Karell weiß, was es heißt, Außenseiter zu sein. Tag und Nacht sitzt er in seiner Werkstatt und wartet auf Kunden. Er wartet und wartet, obwohl er weiß, dass es für ihn keine Arbeit geben wird. Auch sein Ruf liegt im Rinnstein. Jeden Tag wird er mit Dreck beworfen, jeden Tag von neuem. Er sei ein schlechter Schneider, heißt es, ein Stümper. Das liege an seiner Kurzsichtigkeit. Wenn er wenigstens seine stinkende Werkstatt renovieren würde, wenn er wenigstens seinen Laden lüften würde! Aber nein, er wasche sich ja nicht einmal die Hände. Kargus Karell hat Zeit, viel Zeit, aber er nutzt sie nicht, nicht zum Lüften, nicht zum Renovieren und nicht zu seiner Ehrenrettung.

Kargus Karell denkt nach, über sich und sein Leben, er denkt,
während er durch die verstaubte Scheibe seiner Werkstatt auf die Schabenstraße schaut. Dort herrscht dichtes Treiben, Gedränge in der Dunkelheit. ‚Wie Staubgestöber’, denkt der Karell, ‚wie Staubgestöber sehen sie aus. Sie wehen dahin, ohne Ziel und ohne Zweck, gerade so, wie es ihnen der Wind befiehlt. Aber nein, sie haben ja Ziele, sie folgen einer ganz bestimmten Richtung, sie werden getrieben: vom Hunger nach Nahrung, nach Liebe, nach Reichtum. Seltsam’, denkt Kargus Karell, ‚obwohl die meisten arm sind, gilt Armut als Makel, als Schande, die in keinem Lebensentwurf enthalten ist. Armut bedeutet Unfähigkeit und Scheitern.’ 

Auf der Schabenstraße, auf dem Boulevard Blattaria, findet eine Militärparade statt. Kakerlakenkompanien marschieren auf, eine Armee unter Führung Vollprolls, des Vizekönigs. Sie ziehen Lafetten hinter sich her, darauf Raketen, mit Totenköpfen versehen, mit Schabenschädeln. Die Zuschauer sind außer sich, sie freuen sich, sie schwenken Fahnen, Totenkopffahnen. Alle sind gekommen, alle haben ihre Winkel, ihre Falten und Spalten verlassen, sie sind gekommen, um ihrer Wehrmacht zuzujubeln. Die Parade endet vor einem Sessel, vor dem Thron des Kakerlakenkönigs. Professor Peinschweiß erhebt sich. Er hat sein Krönungsornat angelegt: Flügelumhang und Schabenmaske. Seine großen, nierenförmigen Augen leuchten. „Der Tag der Abrechnung ist da“, schreit er, „die Stunde der Entscheidung!“ Der König schreit zu seinem Volk, und das Volk freut sich, es begeistert, es berauscht sich. Alle sind aus dem Häuschen, alle außer Kargus Karell und Schlaraffia, die Schabenschönheit. Diese hatte sich in den Laden des Schneiderleins geflüchtet, aus Angst vor dem Mob, vor aufgebrachten Kakerlaken, die „die Hure“, wie sie schimpften, „die Hure und ihre vierzig Bastarde“ lynchen wollten. „Die Menschen sind Ungeziefer!“, schreit Professor Peinschweiß, der Kakerlakenkönig, er schreit, dass sich seine Stimme überschlägt. „Die Menschen müssen ausgerottet, sie müssen vernichtet werden!“ Plötzlich, mitten im Vortrag, während seiner Rede, klingelt es an der Tür, an der Haustür. Volk und König verstummen. Die Überraschung ist komplett, als der Professor die Tür öffnet. Dort steht Peri Planeta, seine einzige Studentin, das junge dumme Ding. Der Peinschweiß ist wie ausgewechselt, von einem Lächeln entwaffnet, von einem menschlichen, von einem warmen Wort. Ohne zu überlegen, bittet er seine einzige Hörerin herein. Und als er Licht macht, verschwindet der Schabenspuk in alle Richtungen, er verschwindet in Ritzen, Falten und Spalten.



Ein, ein Aus-, ein Ausflug, einer ...
Da, da war, da war eine, da war eine Reise, eine Klassenreise, ich erinnere, ich entsinne mich, als, als ob, als ob sie gestern, gestern gewesen wäre, als ob sie wäre. Und da, da war, da war Zitrone, war Zitronenheidi, Zitronenheidi war da, und ich, ich war auch da, war noch, war doch, war doch auch da, da war ich, ich und Zitrone, Zitronenheidi, sie, sie mit ihrem, mit ihrem Lächeln, ihrem lieben Lächeln … und, und mit, mit dem Schal, mit dem Schal in ihrer Hand, mit dem schönen Schal, dem schönen in ihrer schönen Hand, in ihrer Hand … Sie sagte, sagte, sie hätte ihn geklaut, geklaut, den Schal, sagte sie, sagte sie mit, mit ihrer schönen Stimme, mit der Stimme und dem Schal in ihrer, in ihrer schönen Hand. Und dann, dann hat sie, sie hat ihn mir, hat ihn mir gegeben, den Schal, den schönen, den schönen Schal, sie hat ihn mir geschenkt. Doch, doch dafür, für den Schal, für den schönen Schal wollte sie, Zitronenheidi, sie wollte, wollte für den Schal, für den Schal einen Kuss, sie wollte einen Kuss, einen Kuss von mir, sie wollte, wollte, dass ich, dass ich sie küsse, sie küsse. Ich, aber ich, ich sagte, sagte dass, dass ich, dass ich mich, mich nicht, dass ich mich nicht traue, nicht traue, sie, sie zu küssen, vor, vor all, vor all den andern, den andern Leuten, den Kameraden, den Klassen-, Klassenkameraden.

Und dann, dann zog, dann zog sie mich, zog mich Zitrone, Zitronenheidi, sie zog mich in ein Zimmer, in ein leeres, ein leeres dunkles Zimmer. Und dann zog, dann zog sie, sie zog mich, Zitronenheidi zog mich aus, aber erst, erst nachdem, nachdem ich, nachdem ich sie, nachdem ich sie geküsst, sie geküsst hatte. Und dann, dann zog, dann zog sie, Zitronenheidi zog sich, zog sich aus, auch aus. Und dann zog, zog sie, sie zog mich, zog sie mich zu, sie zog mich zu einem Bett und legte sich, sie legte sich auf, aufs Bett legte sie sich und zog, sie zog, sie zog mich, zog mich zu sich. Aber das, das hätte, das hätte sie, hätte sie nicht tun, nicht müssen, denn sie, sie zog, sie zog mich an, un-, unwider-, unwiderstehlich. Das war, das war damals, auf der Reise, auf der Klassenreise, und ich, ich erinnere, ich entsinne mich, als, als ob, als ob sie gestern, gestern gewesen wäre, als ob sie wäre.




Auf ein Wiedersehen im nächsten Leben!
Es war Mutter Gin, die Miasma und mich seinerzeit verkuppelte, und ich schwöre bei Sankt Spiritus, es war Mutter Gin, die uns wieder trennte. Miasma hatte ihren Spaß mit mir gehabt, nachdem wir einige Zeit unsern Spaß miteinander gehabt hatten, und das kam so: Wir bestiegen nächtens einen Bus wie man einen Berg bei Windstärke zwölf besteigt, einen Shuttlebus, der von einer Dorfdisco zur andern zuckelte. Miasma tat alles, um nicht mit mir in Verbindung gebracht zu werden, sie setzte sich so weit weg von mir, wie es eben ging in einem Bus, einem sogenannten Kleinbus; sie setzte sich zu einem langen Elend namens Agnes, ihrer Busenfreundin, während ich irgendetwas über den Sinn des Lebens oder so in die Nacht hinauslallte. Doch ehe der Kutscher in die Gänge kam, bemerkte ich, dass mir das Publikum für meine Weisheiten fehlte. Also suchte und fand ich meine Liebste und setzte mich zu ihr, so dass Agnes, die neben ihr saß, vor mir wie vor einer giftigen Spinne auf Miasmas Schoß zurückwich. Und während ich meinen Monolog fortspann, indem ich etwa über die Trugbilder der Liebe philosofaselte, suchte und fand ich in der Dunkelheit ihre Hand. Doch es war nicht ihre Hand, sondern die des langen Elends, und wir alle, Miasma, Agnes und ich, wussten es, mit dem Unterschied, dass die Frauen nicht ahnten, dass ich es auch wusste, wenn auch etwas später. Sie glaubten mich gänzlich im Trinkerwahn gefangen, und während sie sich über mich amüsierten, führte ich mein Geschwätz fort und gratulierte mir insgeheim dazu, der größte Narr im Weltall zu sein. Ich spielte den Heuchler, um nicht als ein noch größerer Idiot zu erscheinen. Jedenfalls dauerte es eine Weile, ehe ich die Hand in meiner Hand wieder freigab. Ich steckte in einer Zwickmühle voller falscher, verwirrender Gefühle, aus der ich nur noch mit der Brechstange herauszukommen glaubte. Und so verabschiedete ich Miasma, nachdem uns der Bus vor unserem Hauptquartier, der Ponderosabar, ausgespuckt hatte, ein für alle Mal: Wir sehen uns im nächsten Leben.

 









 

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