DIE LETZTE EJAKULATION (J.G.)

Samstag, 20. April 2024 um 15:14 - monsignore genickschuss

" Degenerated, degenerated and your minds have vegetated... " REAGAN YOUTH

DIE LETZTE EJAKULATION
von Joe Guthrie

Der Morgen fiel durch das offene Fenster wie eine Horde brüllender Ostgoten. Oder war es nur ein Kirmes-Techno-Wagen auf dem Weg zu irgendeiner Parade? Die Sonne brannte den letzten Traum aus Kaffeeglücks Augen, zwei Minuten später würgte er was er vom vergangenen Abend noch in sich trug in die ohnehin reinigungsbedürftige Toilette. Der Kühlschrank gab eine Pfütze schaler Cola her und roch noch schlechter als er selbst. Kaffeeglück warf sich wieder ins Bett und ließ den Fernseher losplappern.

Zumindest die 12-Uhr-Nachrichten wussten von einigen Erfolgen zu berichten. Der Pharma-Riese Zyklon würde seine Produktion zwar in den kommenden vierzehn Monaten in den Iran verlegen, aber immerhin die Hälfte seiner deutschen Vertreter nicht entlassen, sofern der Staat bereit sei, deren Basisgehälter aus eigener Tasche zu zahlen. Die Reichskanzlerin hatte das großzügige Entgegenkommen von Zyklon ausdrücklich gelobt und der zuständige Ministerpräsident sich sogleich mit jeder Forderung des Konzerns einverstanden erklärt. Die Sprecherin trug zur Feier des Tages ein buntes Karnevalshütchen auf dem Kopf.
Noch ehe Kaffeeglück "Helau!" brüllen konnte, verlas sie die nächste frohe Botschaft. Die Bürgerwehr von In im Kreis Zucht war in erster Instanz von dem Vorwurf des gemeinschaftlichen Mordes freigesprochen worden. Der Richter bescheinigte den 33 Männern in seiner Urteilsbegründung bei der Steinigung des ruandischen Staatsbürgers Tom Abidjan, der als "UnZucht-Neger" durch die Presse gegangen war, im Affekt gehandelt zu haben. Es hätten zwar keinerlei Beweise gegen den Afrikaner vorgelegen, aber schließlich habe es im Dorf genau ein Vergewaltigungsopfer und einen Schwarzen gegeben.
Mit der Bemerkung "Die Lösung dieser komplexen Rechenaufgabe überlasse ich ihnen!" hatte der studierte Jurist und mehrfach ausgezeichnete Landschaftsmaler den Prozess beendet.
Die darauf eingespielte Kurz-Reportage fing gekonnt die Stimmung auf dem Marktplatz von In nach der Urteilsverkündung ein. Die regional bekannte Deutsch-Rock-Kapelle KROIZFOIER und der bundesweit beliebte Barde JOSEF VATERLÄNDER gaben ein Spontan-Konzert und Jung und Alt feierten zusammen dass es eine rechte Freude war. Ein ausnehmend kurzhaariger, minderjähriger Fettschädel grunzte in die Kamera: "Et jibt noch Jerechtichkeit!" und goss sich rülpsend ein Bier über den verschwitzten Hängebauch. Sein etwas zu knapp geratenes T-Shirt zeigte einen durchgestrichenen Kopf mit Afro-Frisur und den Schriftzug "AIDS? Nein Danke!". Im Hintergrund warf ein schwankender Gänsereiter triumphierend einen abgerissenen Flügel des toten Vogels in die Luft. Kaffeeglück erwog umzuschalten, war aber zu schwach um erneut zur Fernbedienung zu greifen.
So erfuhr er auch noch, dass amerikanische Bomberpiloten beim Versuch ein mutmaßliches Versteck von Osama Bin Laden zu treffen, Damaskus in ein zweites Guernica verwandelt hatten. Ein Sprecher des Weissen Hauses bedauerte den Kollateralschaden zutiefst und entschuldigte sich bei den Toten.
Die letzte Meldung sprach schließlich wieder die Primär-Interessen und -Bedürfnisse des Durchschnittszuschauers an: "Die öffentlichrechtlichen Erotik-Kanäle V1 und V2 gehen heute um zwanzig Uhr auf Sendung.
V1 wird als ersten abendfüllenden Spielfilm den Klassiker `Das immerfeuchte Zimmermädchen` ausstrahlen, V2 die aufwendige Eigenproduktion "Das Natursektfrühstück`." Der sich anschließende Wetterbericht versprach die gewohnte schwüle Sommerhitze von 43 Grad.



Kaffeeglück wälzte sich auf die andere Seite, schloss die Augen, dachte an einen alten Schwarm und träumte trotzdem schlecht...
Ein chromfarbener, Wagner-Opern schmetternder Sportwagen verfolgte ihn durch eine endlose Wüste, während ihm fliegende Dackel unablässig auf den grünen Iro pinkelten. Nur mit Mühe konnte er sich in seine Küche retten, in der ein zahnloser Freund auf ihn wartete und verzweifelt an einem Apfel leckte.
"Beiß für mich ab und kau vor!" flehte Jeff Bridges und Kaffeeglück wollte ihm eben den Gefallen tun, als sich plötzlich etwas Hartes an seinem Hintern rieb. Er drehte sich um und sah in das faltige, runde Gesicht eines ehemaligen Hitlerjungen und Kardinals, der so selig lächelte als dürfe er gerade einer ausgedehnten Wasser-Folter beiwohnen.
"Guten Tag. Inquisition. Sie haben mal an Gott geglaubt und beten jetzt nicht mehr? Würden Sie sich bitte mal freimachen..." Kaffeeglück sprang zum Fenster und dann durch die Scheibe hinaus. Er brach sich nichts und freute sich sehr, denn es war ja bloß das Hochparterr`, aber auf der Straße stand schon sein langjähriger Wegbegleiter, der Ex-Barbar. "Ich hab jetzt einen Job bei der NATO!", jauchzte der mit Freuden-Tränen in den Augen. "Ich bin der neue Pressesprecher! Wenn wir morgen früh Weißrussland bombardieren..." Der langhaarige Aufsteiger wurde plötzlich leichenblass. "Verdammt! Das hätte ich Dir noch gar nicht erzählen dürfen..." Er griff in seinen schweren schwarzen Ledermantel und zog hastig eine Walther hervor. In diesem Augenblick kamen die Dackel zurück, nur diesmal entleerten sie ihren Darm...

Es war gegen fünfzehn Uhr als Kaffeeglück das nächste Mal die Augen öffnete. Er hatte im Schlaf ins Bett gepisst und begriff schnell, dass sich eine äußerliche Grundreinigung seiner Selbst nun nicht länger aufschieben ließ.
Er legte die Federdecken zum Lüften und Trocknen über das Balkongeländer und warf Laken und Bezüge auf den Wäscheberg unter dem Badezimmerwaschbecken.
Dann ging er mit immer noch erheblichen Kreislaufschwankungen duschen.
Es gab nur zwei Einstellungen, "zu heiß` und "zu kalt`, aber es half in Gedanken zum Beispiel eine Horde schnauzbärtiger LYNARD SKYNARD-Fans fertig zu machen um eine rothaarige Punkerin im kurzen Rock zu retten. Warum Wasser ein Symbol des Lebens sein sollte, hatte Kaffeeglück nie verstanden. Er dachte beim Duschen stets nur ans Töten. Nachdem er noch mal genüsslich in die Wanne uriniert hatte, trocknete er sich ab, zog sich frische Klamotten an, legte die beste SPRINGSTEEN-LP, "Nebraska`, auf und rief den kleinen Michel an.

"Schon wach? Schon gekotzt?"
"Hab gerade was gegessen. Geht langsam wieder...", antwortete der spitznasige Zwerg mit schwacher Stimme.
"Was liegt heut Abend an?" Kaffeeglück fühlte sich bereits wesentlich besser und ahnte, dass er in einigen Stunden wieder Durst haben würde. "Keinen Plan. Ich hab keine Kohle mehr... Scheisse, heute ist erst der Fünfte..."
Kaffeeglück überging die Existenzsorgen seines arbeitslosen Freundes und fragte: "Haste schon gehört, dass heute das staatliche Fickfernsehen anfängt?"
"Die Schweine. Streichen uns die Leistungen zusammen bis wir uns nicht mal mehr Kartoffeln und Zwiebeln leisten können und dann wollen sie uns mit Pornos ruhig stellen. Aber das wird nix. Morgen ist die nächste Demo. Die Leute wollen sich nicht mehr verwalten lassen...", analysierte Michel nun hörbar erregt.
"Abwarten. Bisher haben `die Leute` noch immer den Dreck gefressen, den man ihnen vorgeworfen hat", fiel ihm Kaffeeglück ins Wort und kehrte, bedacht darauf die politische Rede des Genossen nicht in die übliche anarchistische Uferlosigkeit ausarten zu lassen, schnell zur Abendplanung zurück: "Wir können uns den Mist ja mal kurz anschau`n und dann nen Film gucken.
Ich hab den letzten Ken Loach auf DVD."
"Is gut", meinte Michel, "aber ihr müsst heute zu mir kommen. Ich schaff s nicht... Ich glaub, ich ess noch ein bisschen Püree..."
"Trink!" brummte Odin, hielt Kaffeeglück einen mit Met gefüllten Schädel hin und sah dabei mit der prüfenden Miene eines übel gelaunten Gestapo-Bullen auf ihn herab. 1000 grässlich geschminkte Black-Metal-Kids, die bis dahin andächtig unter dem gigantischen Eichentisch gekauert hatten, begannen, rythmisch und im Chor, "Ex oder Arschloch!" zu keifen. "Nein danke!", sagte Kaffeeglück, "Ich hatte ein Bananenweizen bestellt!" Odins zusammengewachsene Brauen bildeten jetzt die buschigen Schenkel eines spitzwinkeligen Dreiecks und eine feuchte Wolke schlechten Atems entwich der weit geöffneten Höhle seines Mundes. Ein Ruck lief durch die Reihen der göttlichen Zottel.
Thor griff nach seinem vierzehn Meter hohen Hammer, Loki fasste sich ans Herz und keuchte: "Wer hat die schwule Sau an unsere Heldentafel gelassen?"
Selbst der eben noch selig schnarchende Ernst Röhm war aufgewacht und fragte interessiert: "Schwule? Wo?" Die Black-Metal-Kids stimmten den altbekannten Gassenhauer "Schlag dem Punker die Schädeldecke ein!" an. Aber Kaffeeglück war nicht danach klein beizugeben. In barschem Ton fragte er: "Wer ist eigentlich der Besitzer von diesem Schweineladen?", um dann bestimmt fortzufahren: "Ihr zeigt mir jetzt erst mal Eure Schank- Konzession. Und dann will ich die Gesundheitszeugnisse vom Personal sehen. Ich kann übrigens nur hoffen, dass ihr Hippies in der Küche Haarnetze tragt. Das wäre sonst nämlich wirklich widerlich und außerdem ein Verstoß gegen die Hygiene-Vorschriften!" Mit einem mal wurde es still in Walhalla. Die Gesichter der Götter waren plötzlich noch um Einiges weisser als es man es von waschechten Ariern für gewöhnlich verlangen konnte. Odin gewann als erster die Fassung zurück. Einen groben Speichelregen über den Tisch blasend brüllte er in Richtung Thor: "Scheiße! Ich hab Dir doch gesagt, dass wir so eine Konzession brauchen! Aber der feine Herr hat ja immer etwas Besseres zu tun! Jetzt haben sie uns an den Eiern!" Loki hauchte mit ersterbender Stimme:
"Alles vorbei. Jetzt ist alles vorbei..."
Die Black-Metal-Kids weinten.

Kaffeeglück erwachte mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit auf seinem Teppichboden. Es hatte offensichtlich ein Gewitter gegeben, denn von draußen wehte nun ein erfrischender Wind herein und durch das offene Fenster hatte es heftig auf seinen Schreibtisch geregnet. Kaffeeglück legte ein Handtuch drüber, holte das inzwischen völlig durchnässte Bettzeug vom Balkon und zog seine Stiefel an. Es war 18 Uhr 30 und Zeit sich auf den Weg zu machen. Im Treppenhaus traf er auf zwei junge Mormonen, die den Eindruck erweckten ihre Sekte sei den etablierten Genforschern beim Klonen inzwischen um Einiges voraus.
Mit amerikanischem Akzent und der alles mit allem versöhnenden Freundlichkeit eines Erleuchteten sagte Biomasse l: "Guten Abend! Haben Sie vielleicht einen Moment Zeit? Wir würden gerne mit Ihnen über Gott sprechen... ein wenig..."
"Meine Seele ist schwärzer als Malcom X und des Nachts schicke ich sie auf Reisen um Lämmer wie Euch heimzusuchen und hinabzuführen auf den feurigen Grund der Hölle, in eine Verdammnis die so tief und hoffnungslos ist, dass Euch nichts bleiben wird als Euch bis in alle Ewigkeit wehklagend, von innen und außen brennend, unter unvorstellbaren Schmerzen in Schmutz und eitrigem Auswurf zu wälzen, getrieben nur noch von dem aussichtslosen Verlangen Eure entstellten Körper und kochenden Innereien zu kühlen. Und niemand, nicht einmal Gott, wird Eure Schreie hören!" entgegnete Kaffeeglück mit dem herzerwärmenden Lächeln eines irrsinnig gewordenen Metzgergesellen.
Biomasse 2 versuchte hinter den schmalen Schultern von Biomasse l zu verschwinden, was ihr aufgrund ihrer identischen Maße auch ganz gut gelang, und die Treppe war frei.



Die Straße war noch immer prall gefüllt. Hunderte Opfer von Arbeit und Arbeitslosigkeit schleppten oder fuhren das was von ihnen noch übrig war - wie die abgepackten Stärkungsportionen, die sie sich später zuzuführen gedachten - in Richtung ihrer Mausolen und Sterbezimmer. Im Rinnstein lagen zwei tote Ratten. Kaffeeglück fragte sich wie krank eine Stadt sein musste, in der selbst diese tapferen, zähen Nager vor die Hunde gingen. An der Kreuzung begegnete ihm Emidio, sein Lieblingspenner. Emidio kam aus Portugal und war mal Seemann gewesen, aber eines Nachts war ihm während seiner Wache auf See etwas widerfahren, was sein ganzes Leben verändert hatte. Er hatte sich gerade seinen nächsten Landgang in Hamburg ausgemalt, als er plötzlich etwas Schweres und Nasses auf das Deck unter sich klatschen hörte. Noch ehe er das Ding mit dem Strahl seiner Taschenlampe erfassen konnte, war es mit einem schlürfenden Geräusch unter der Treppe verschwunden. Emidio war kein Feigling, aber er war in einem kleinen Fischerdorf aufgewachsen und kannte die Geschichten von jenen unheimlichen Wesen, die in den Tiefen des Meeres wohnen und nur in völliger Dunkelheit an die Oberfläche kommen um ihren immerwährenden Hunger mit ahnungslosen Matrosen zu beruhigen, seit seiner Kindheit. Eine dichte Wolkendecke hatte sich schon Stunden zuvor vor den vollen Mond geschoben. Emidio zog sein Messer, nahm mit weichen Knien die Treppe, versuchte dabei durch die Gitterroste zu erkennen mit was er es zu tun hatte und betete. Das Ding musste sich ganz nah an die Wand der Brücke gepresst haben. Emidio sah nichts.
Von der viertletzten Stufe sprang er auf das Deck, wirbelte blitzschnell herum und richtete seine Taschenlampe dorthin wo er den unwillkommenen Gast vermutete.

Was er vorfand ließ seinen Schließmuskel jede Selbstbeherrschung vergessen. Es war eine etwa zwei Meter lange Wasserschlange, die mit ihrem mächtigen schwarzen Körper ohnehin schon furchteinflössend genug gewesen wäre.
Das wirklich Entsetzliche aber war, dass sie über zwei nahezu menschliche Arme verfügte an deren Enden sich auf den Umfang von gigantischen Kürbissen geschwollene Hände mühten einen aufgedunsenen, grässlich bleichen Kopf vor dem Licht zu schützen.
"Wer bist Du?", fragte Emidio wimmernd.
Zunächst bekam er nur ein unverständliches Gurgeln als Antwort.
Das Ding brauchte einige Augenblicke bis es seine Stimme fand.
Dann sagte es: "Martin. Benjamin Martin."
"Du... du bist ein Mensch?" Nicht bloß seine Hose klebte jetzt an Emidio.
Er war schweißnass und dicke Perlen tropften von seiner Stirn.
"Ich bin Soldat... Oder ich war es. Ich weiß nicht wie lange das her ist..." Martin flüsterte nur und selbst das schien ihm die schlimmsten Anstrengungen abzuverlangen. "Wir waren die ersten, die nach dem Test an Land gegangen sind. Daran kann ich mich noch erinnern..." Er hustete. Zumindest sah es für Emidio so aus. Ein Zucken ging durch den ganzen Schlangenkörper. Dann ließ Martin auf einmal seine Kürbis-Hände auf den Boden fallen - vielleicht aus Schwäche- und gab den Blick auf sein Gesicht frei...
Emidio musste geschrieen haben, so laut und durchdringend, dass es seine Kameraden in ihren Kojen geweckt hatte, aber er selbst wusste davon später nichts mehr. Als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, hatte Zeca über ihm gekniet und mit aschfahler Miene gesagt: "Es ist alles in Ordnung.
Wir haben das Vieh in tausend Stücke gehackt. Pablo wirft gerade die Reste ins Meer. Mein Gott, was war das? Ich habe noch nie etwas so Hässliches gesehen..." In Hamburg hatte Emidio das Schiff verlassen, er hatte verkauft und vertrunken was er bei sich trug und seitdem war er unterwegs.

Von all dem hatte Kaffeeglück nicht mal den Hauch einer Ahnung. Er kannte Emidio als buckligen, offenbar verwirrten Greis, der, wenn er nicht gerade vor sich hinfluchte, portugiesische Reden in das Nichts seiner Umwelt schmetterte und seinen mit allerlei Unrat gefüllten Einkaufswagen, jegliches Hupen und sämtliche Verkehrszeichen ignorierend, am Liebsten mitten über die Hauptstrasse schob. Diesmal hatte er jedoch vorschriftsmäßig an der roten Ampel angehalten. Allerdings nur um seine keinesfalls Wohlgeruch verbreitenden Habseligkeiten für einen Moment mit sich alleine zu lassen, sich an die Beifahrertür des hinter ihm wartenden Mercedes zu stellen und den Bonzen laut lachend gegen die Scheibe zu pinkeln.
"Wie schön!", dachte Kaffeeglück,
"Der Abend ist gerettet."

Der Kartoffelpüree hatte dem kleinen Michel offensichtlich gut getan. Er hatte den Nachmittag damit verbracht die aktuelle DURUTTI-Biographie zu lesen und war nun redlich bemüht Kaffeeglück und die zeitgleich eingetroffenen Genossen Stahlkopf und Dübauski in einem nicht enden wollenden Redefluss an seinem neu erworbenen Wissen teilhaben zu lassen. Dübauski, seine letzte Flasche Havanna Club im Arm, tat interessiert. Stahlkopf, über die Jahre und sein Studium zum Realpolitiker und Sozialdemokraten mutiert, blickte gelangweilt und ein klein wenig resigniert aus dem Fenster. Vielleicht würde er zu einem späteren Zeitpunkt seine Sicht der Dinge darlegen, aber es konnte ohnehin noch Stunden dauern bis er an der Reihe war. Kaffeeglück war derweil mit dem Leeren eines Tetra-Paks Rotwein beschäftigt und in Gedanken wieder bei einem alten Schwarm, den es mittels einer Schalldämpfer-bestückten Pistole aus den Händen fieser Mafia-Typen zu befreien galt. Hin und wieder sah er auf die Uhr von Dübauskis Handy. Im Hintergrund frickelten FUGAZI.
Um 20 Uhr würgte er mit dem Ausruf "Nachrichten, Jungs! Jetzt mal alle die Fresse halten!" Michels fundierte Erklärungen zum spanischen Bürgerkrieg brutal ab, schaltete die Anlage aus und den viereckigen Volksverblöder ein. Es gab nicht viel Neues. In In feierte man immer noch und in Damaskus war man beim Aufräumen. Letzteres würde sich wohl noch einige Monate ziehen.
Der amerikanische Präsident forderte vor dem Kongress mehr Mittel für seinen Krieg gegen den islamistischen Terror. Außerdem die Erblichkeit seines Amtes und Fürbitten für die kämpfenden Truppen in allen Kirchen des Landes. Ein wild onanierender Monster-Truck-Fahrer war auf der AI8 in den Gegenverkehr gebrettert und hatte jetzt 41 Menschenleben auf seinem vermutlich schmerzfreien Gewissen.
Die guten Nachrichten des Tages waren, dass die Feuerwehr einen niederrheinischen Bauern aus seiner eigenen Jauchegrube befreien konnte und der sinkende Benzinpreis. Der Wetterbericht schließlich warnte vor einem Jahrtausend-Orkan an der norddeutschen Küste.



Michel zappte auf den Sendeplatz, der früher Arte gehört hatte und den nun V1 in Anspruch nahm. "Jetzt aber Titten!", brüllte Kaffeeglück und meinte es weniger ironisch als es für seine Freunde klang. Alle warteten gespannt, doch schon der Vorspann vom "Immerfeuchten Zimmermädchen" ließ Einiges zu wünschen übrig.
Weiße Schrift auf schwarzem Grund teilte den Vieren minutenlang mit, dass sich Candy, Sandy, Mike, Laureen und ein paar andere, vergeblich von seriösen Karrieren träumende Profi-Ficker die Hauptrollen in diesem Bestseller deutscher Porno-Videotheken teilten. Und zu allem Überfluss gab es auch noch eine Rahmenhandlung. Ein ehemaliger Motocross-Mechaniker mit Unterarm-Tätowierung und ein durch Nahrungsmittelergänzungspräperate nicht nur sprachlich arg beeinträchtigter Body-Builder im Endstadium probierten ein Geschäftstreffen in einer Hotellobby nachzustellen. Zwar sorgten die Drei- bis Fünfwortsätze, die wohl das Äußerste waren, was der Drehbuchschreiber seinen Protagonisten zumuten zu können glaubte, für unfreiwillige Komik. Doch erschöpften sie auch die Geduld der auf echten Hardcore eingestellten teilrevolutionären Duisburger Zelle, die endlich zum angenehmen Teil des Abends übergehen wollte. Michel wechselte also unwidersprochen zu V2 und verzeichnete mit schlecht gespielter Entrüstung das Ende von 3 Sat. Eine Analyse der Hintergründe und möglichen Folgen dieses schlimmen Verlustes für die deutsche Fernsehlandschaft wurde allerdings von der schweigenden und gebannt das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgenden Mehrheit auf unbestimmte Zeit verschoben. Da saß ein junges Ehepaar nackt an dem mit südländischem Obst gefüllten Holztisch einer mediterranen Villa, während eine recht knapp bekleidete Hausangestellte, der die Abneigung gegen das Tragen wie auch immer gearteter Höschen ohne Weiteres anzusehen war, zwei Sektgläser mit ihrem Morgenurin füllte.
Die Jungvermählten lächelten sich verliebt an. Dann führten sie sich nach einem beschwingten Prost das köstliche Getränk zu Gemüte. Stahlkopf glaubte offenbar, dass ihn der Anstand an dieser Stelle zu einem angeekelten "Baaah!" verpflichten würde. Der Herr Dübauski dagegen gestatte sich ein lautstarkes, euphorisches "Yipiieh!". Kaffeeglück war sich noch nicht sicher was er von der Geschichte halten sollte. Eigentlich ein großer Freund abartiger Ferkeleien, ahnte er Schlimmes und fürchtete um die zumindest in Ansätzen vorhandene Qualität des versauten Streifens. "Was soll der Scheiss-Typ da?", fragte er in die Runde, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Fünf Minuten später kam es wie es kommen musste: Ein prächtiger erregierter Schwanz rammelte in immer wiederkehrenden Großaufnahmen drauf los, als könne er durch Reibung Gold erzeugen.
"Ach Scheiße! Bin ich schwul, oder was? Lasst uns den Ken Loach-Film gucken."
Kaffeeglück war enttäuscht. "Fangt schon mal an. Ich muss noch mal kurz aufs Klo.", meinte der kleine Michel mit eigenartig belegter Stimme.
"So, so. Aufs Klo...", kommentierte Stahlkopf, dem seine 80-er Jahre-Stretch-Jeans ebenfalls ein wenig eng geworden war.
Der Herr Dübauski schimpfte "Spießer!", war mit dem Programmwechsel aber prinzipiell einverstanden.
Er hatte ja noch seinen Havanna Club.
Der kleine Michel verpasste die erste Viertelstunde und lernte dann wie seine Freunde eine Menge über die Entstehung der IRA. Später, am Abend, der Alkohol ging zur Neige, redeten sich Stahlkopf und Dübauski in Rage und als letzterer wutschnaubend forderte sämtliche Berufsmusiker an die Wand zu stellen, weil Kultur schließlich Gemeingut sei, verhinderte nur Kaffeeglücks besonnenes Eingreifen Schlimmeres.
Der kleine Michel, der ein bisschen ausgepumpt wirkte, verabschiedete die drei mit der Bitte sich am nächsten Tag um 11 zur Demo vor dem Rathaus einzufinden.

Zuhause stellte Kaffeeglück fest, dass sein Bettzeug immer noch feuchter war als es das leider verpasste Zimmermädchen jemals hätte sein können. Er formte seine Lederjacke zu einem Kissen, legte sich auf den Boden und gestattete sich beim Wichsen noch etwas Fernzusehen. Auf V2 war man inzwischen beim "Fußschweiß fetter Lederzofen" angekommen. V1 bot mit "Katholische Saftspalten auf Klassenfahrt" dagegen ein erfreulich männerarmes Kammerspiel, dem neben Schuluniformen und Nonnenkitteln vor allem seine treffsicheren Dialoge hoch anzurechnen waren. Zu Kaffeeglücks Unglück machte sich nun jedoch der seinem Freund Dübauski weggesoffene Schnaps bemerkbar und nach einer kurzen Karussellfahrt und vergeblichen Versuchen das Gelecke und Geschlabber in der Glotze im Auge zu behalten, schlief er ein mit seinem Ding in der Hand.
(Anmerkung: "My name is Fat Mike, I‘m obsessed with big lesbians, I`ve been a punkrocker for most of my life...",NOFX)

Der nächste Morgen machte wieder die Ostgotennummer. Obgleich Kaffeeglücks Kopf eigentlich eine breitere Tür gebraucht hätte und sein schmerzender Nacken auf einen möglicherweise nahenden Migräneanfall hinwies, begab er sich nach einer fast wasserfreien Katzenwäsche direkt auf den beschwerlichen Weg zur Demo. In Stiefeln zu schlafen hatte zumindest den Vorteil sich am folgenden Tag nicht so tief bücken zu müssen.
Im Bus Richtung Innenstadt lenkte ihn ein anderer, ihm direkt gegenüber sitzender Passagier von den zahllosen bunten Punkten ab, die quietschvergnügt vor seinen Augen tanzten. Der Mann schien aus einem arabischen Land zu kommen und trug jene Art von Vollbart, die auf religiöse Wahnvorstellungen schlimmsten Ausmaßes deutet. Auf seinen Knien lag eine schwere Reisetasche und neben ihm stand ein prall gefüllter Rucksack. Der Hysterie nahe, betete er in einem schier unglaublichen Tempo vor sich hin und sah alle paar Sekunden mit weit aufgerissenen Augen auf seine Armbanduhr.
Kaffeeglück hatte sich einige Tage zuvor eine längere Doku über einen israelischen Kriegsphotografen angeschaut. Dessen erster Einsatz war ein Bus gewesen, den palästinensische Selbstmordbomber als den direkten Weg zu himmlischen Endlosfickereien mit willigen Jungfrauen identifiziert und samt Insassen in Millionen Stücke gesprengt hatten. Kaffeeglück hatte die sehr gelungenen Bilder vom Ergebnis dieser politisch weitsichtigen und für jeden wackeren Anti-Imperialisten auch moralisch gerechtfertigten Aktion noch klar und deutlich in seinem schweren Kopf. Die Entscheidung zwischen `einen Lynchmord an einem vielleicht Unschuldigen auslösen` und `sich selbst in Sicherheit bringen` gestaltete sich zwar zunächst schwierig, war aber nichtsdestotrotz an der nächsten Haltestelle getroffen. Kaffeeglück legte die restlichen Kilometer lieber zu Fuß zurück.
Einem Schwächeanfall nahe erreichte er die Demo. Der Zug setzte sich gerade in Bewegung und Kaffeeglück freute sich wenigstens die Eröffnungsreden verpasst zu haben. So hatte alles sein Gutes.
Am Ende der aus maximal 150 Teilnehmern bestehenden Marschkolonne wartete schon grinsend der Herr Dübauski auf ihn und drückte ihm mit einem "Hier, das hilft gegen den Kater!" das erste Bier des Tages in die Hand. Ein von schadenfrohem Gelächter begleitetes Handytelephonat mit Stahlkopf ergab, dass dieser sich auf dem gestrigen Nachhauseweg in einer mittelgroßen Pfütze die 1285. Erkältung seines Lebens eingefangen hatte und in den nächsten Tagen verschnupft das Bett hüten würde. Der kleine Michel ging gar nicht erst ran. "Der ist jetzt bestimmt nur noch am Wichsen!", spekulierte Dübauski voller Verachtung.
Kaffeeglück, der seine aktuelle Programmzeitschrift verbummelt hatte, fragte getrieben von kaum zu verbergender Neugier: "Wie? Senden die etwa 24 Stunden am Tag?" "Ja klar. Die Arbeitslosen müssen doch auch beschäftigt werden. Darum geht`s doch! Ich meine, die Deutschen waren ja schon immer ein Volk von Wichsern, aber wenn die Vorlagen jetzt auch noch gratis ins Haus kommen, dann merken die bald nicht mal mehr, dass sie nix zu fressen haben!", referierte Dübauski, gefiel sich dabei in seinem gepflegten Ultra-Nihilismus und fand, dass seine eben erst geklaute schwarze Sonnenbrille ganz hervorragend dazu passte. Kaffeeglück lachte und hätte gerne auch etwas ordentlich Zynisches gesagt. Er war aber zu müde. Die Maoisten von der MLPD skandierten inzwischen: "Kanzlerin versteh es recht, wir sind das Volk, du bist sein Knecht!"
"ScheiSS-Volk! Ich piss Euch gleich in Euer Megaphon!", brüllte Dübauski und zog die verärgerten Blicke patriotischer Marktwirtschaftsverlierer auf sich. "Idioten!", dachte Kaffeeglück und fluchte leise in seinen nicht vorhandenen Bart.
(Anmerkung: "Man sollte viel mehr in Ecken rumstehen, rumgrummeln und stolz drauf sein!", DIE AERONAUTEN.)



In den folgenden Wochen ging das Programm des Fickfernsehens weitestgehend an Kaffeeglück vorbei. Seine Dauer-Verlobte beanspruchte nach seinen letzten Besäufnissen nun wieder zunehmend mehr von seiner Zeit und kürzte seine Leine beträchtlich. Seine regelmäßig eingebrachten Vorschläge doch zwecks Inspiration wenigstens hin und wieder mal zu V1 oder 2 zu zappen, wurden für gewöhnlich mit einem unerbittlichen "Tu lieber was für die Uni!" abschlägig beschieden. Fanny war kein Porno-Fan, verstand sich aber so gut darauf, Kaffeeglück anderweitig Vergnügen zu bereiten, dass er die neuen Sender nach einer Weile beinahe vergaß. Dafür bekam er die sich in beträchtlichem Tempo vollziehenden Änderungen in der Sozialgesetzgebung umso deutlicher mit.
Während eines Spaziergangs traf er Kotzi, einen alten Bekannten aus jenen glücklichen Tagen in denen man noch zu Tausenden friedliche niedersächsische Metropolen überfallen und dem Erdboden gleich machen konnte. Kotzi kniete, links und rechts einen schwarz gekleideten Sicherheitsdienstler neben sich, auf dem Bürgersteig und trug ein braunes Papp-Schild mit der Aufschrift "Ich bin am Ort das größte Schwein, ich lass mich mit Sozialbetrügern ein!" um den Hals. Als Kaffeeglück entsetzt fragte was denn eigentlich hier los sei, entgegnete einer der beiden Privatbullen barsch: "Die Olle von der Sau hatte ne ganze Ente in ihrem Kühlschrank versteckt! Das hatta jetz davon!" Später erfuhr Kaffeeglück, dass die Sozialdetektive das tote Federvieh bei ihrer wöchentlichen Hausdurchsuchung beinahe übersehen hätten, aber ein Kameramann von RTL 88 hatte sie schließlich noch auf ihr Versäumnis aufmerksam gemacht. Mit absoluter Mehrheit war im Bundestag kurz zuvor Folgendes beschlossen worden: Hilfeempfänger in deren Wohnungen Fleisch oder Fisch oder Reste von Fleisch oder Fisch gefunden werden, sind mit einer Leistungskürzung nicht unter 140 Prozent und nicht weniger als einem Jahr Freiheitsentzug zu bestrafen.
Hilfeempfänger, die mit anderen Hilfeempfängern zusammenwohnen, bei denen Fleisch oder Fisch oder Reste von Fleisch oder Fisch gefunden werden, sind durch zweiwöchiges auf der Straße knien zu bestrafen. Sie müssen dabei ein beschriftetes Schild mit demütigendem Inhalt um den Hals tragen und dürfen von jedermann und -frau angespuckt, mit beschuhtem Fuß getreten und nach Herzenslust beschimpft werden. Jeder Hilfeempfänger hat den zuständigen Sozialdetektiven jederzeit seine Wohnungstür zu öffnen. Wird der Hilfeempfänger nicht angetroffen, so ist die Tür gewaltsam zu öffnen. Für eventuelle Reparaturen hat der Hilfeempfänger selbst aufzukommen. Der Hilfeempfänger ist verpflichtet den Kamerateams von RTL 88 auf Wunsch sein Gefühlsleben offen zu legen. Das Unterdrücken oder Verstecken echter Tränen wird mit Leistungskürzungen bis zu 110 Prozent geahndet.
Ein paar Tage später wurde Kaffeeglück durch ein lautes Krachen beim Hören der ersten DEAD KENNEDYS-Platte gestört. Als er auf den Flur stürzte, sah er dass drei Schränke in "Kill + Clean"-Uniformen die Tür seines arbeitslosen Nachbarn eingetreten hatten. Sie schleiften ihn gerade an den Haaren hinaus ins Treppenhaus. "Aufgeht`s zur Apfelernte, Sportsfreund!", feixte einer der Schergen gut gelaunt. Ein anderer schlug dem schluchzenden Drückeberger, unter dessen Boxershorts sich merkwürdigerweise eine Erektion abzeichnete, missmutig seine Maglite in die Rippen und murmelte frustriert: "In Kroatien war`s irgendwie lustiger!" Der Widerstand auf den Straßen hielt sich trotz allem in Grenzen. Eigentlich nahm er sogar konstant ab. Die MLPD wurde zwar nicht müde zu Demonstrationen aufzurufen, aber die Teilnehmerzahl wurde jedes Mal kleiner. Wenn Dübauski und Kaffeeglück nicht zu verkatert waren, gingen sie deshalb regelmäßig hin. Ersterer lebte mittlerweile ohne Papiere in der Illegalität, hatte aber eine liebevolle, dem Buddhismus zugetane Großwildjägerin gefunden, die ihn am Kacken hielt und die im Gegenzug kaum mehr erwartete als eine gelegentliche sonntägliche Bauchtanzeinlage.
Auch Stahlkopf schloss sich ihnen hin und wieder an. Nachdem er gegen Ende des Sommers sein Politikstudium mit einem Doktortitel gekrönt und sich, ohne je eine Antwort zu erhalten, für eine Innendienst-Karriere beim Außenministerium, Amnesty International und der NATO beworben hatte, hatte er nun wieder jede Menge Zeit. Das Arbeitsamt ließ ihn in Ruhe, da es Millionen gab, die für körperliche Arbeit besser geeignet waren. Hinzu kam, dass das Ausbleiben eines bequemen Bürojobs im bürgerlichen Lager seiner verloren geglaubten Radikalität zu einem unverhofften Comeback verhalf. Das Prinzip "Rübe runter!" -auch bekannt unter den Namen "Anne Wand!" und "An die Laternen!"- wurde von ihm nun wieder als durchaus praktikabler Lösungsansatz sämtlicher Weltprobleme propagiert. Allerdings wurde er immer dünner und bisweilen steckte Kaffeeglück ihm jetzt von Fanny bezahlte Tiefkühlpizzen zu. Der kleine Michel meldete sich überhaupt nicht mehr.

Als der Winter schon kalten Regen über`s Land trieb, titelte die BLÖD AM HELDENGEDENKTAG: "Nur wer arbeitet soll auch essen!" Gleichzeitig beschloss die Regierung der Standortsicherung und der Vaterlandsliebe, wie sie sich jetzt selbst nannte, die Leistungen für Arbeitslose, Rentner und Sozialhilfeempfänger auf die jeweiligen Mietkosten runterzufahren. Lediglich die Stromrechnung sollte nun noch zusätzlich vom Staat übernommen werden. Ein anderes Gesetz gestand den Unternehmen zu, fürderhin selbst die Summe ihrer Steuerzahlungen zu bestimmen. Die Börsenkurse schnellten in die Höhe und Arbeitgeberpräsident Töle ließ sich in einer privaten Zeremonie vor ausgewählten Gästen vom Kölner Erzbischof eine Krone auf sein ergrautes Haupt setzen.
(Anmerkung: Die am 12. Dezember vollzogene Selbstverbrennung JOCHEN DISTELMEYERS war kein verzweifelter Akt bedingungslosen Widerstandes gegen die bestehenden Verhältnisse. Der Hamburger Philosoph, Dichter und Naturfreund hatte sich schlicht unverstanden gefühlt und die Menschheit seiner weiteren Anwesenheit für unwert befunden. Kaffeeglück, Stahlkopf und Dübauski feierten das Ereignis mit geklautem Rum-Verschnitt und einer zusammen geschnorrten Dose Ölsardinen.)

Kurz vor Weihnachten erhielt Kaffeeglück einen Brief von der Uni. Die Aufforderung fürderhin halbjährlich 5000 Euro Studiengebühren zu entrichten, bedeutete das Ende seiner Historiker-Laufbahn. Soviel konnte Fanny nicht aufbringen.
Nachdem er sich eine halbe Stunde abgerackert hatte, um sich zu dem lustlosen Rumgeficke auf V1 einen beruhigenden Abgang zu verschaffen, gab er es auf und beschloss den kleinen Michel zu besuchen. Er versuchte gar nicht erst vorher anzurufen, sondern marschierte mit finsteren Gedanken schnurstracks durch den japanischen Film-Regen zur bescheidenen Bleibe des ungetreuen Zwergs.
Zu Kaffeeglücks Entsetzen fand er die Wohnungstür offen und unmotiviert in ihrem Rahmen schwingend. Zunächst dachte er an Kill + Clean und staatlich geförderte Arbeitseinsätze, von denen es, wie es inzwischen hieß, bisweilen keine Rückkehr mehr gab, aber dann vernahm er plötzlich ein barbarisches Gestöhne, das dem Grunzen einer cholerischen Wildsau nicht unähnlich war, und trat ein. Schon der enge Flur stank nach einer Mischung aus Kot, Urin und Experimenten mit Lebensmitteln, deren Ziel nur die prachtvollste Schimmelpilzbildung des neuen Jahrtausends sein konnte. Überall lag jeglicher Form entbehrender Müll und irgendwo dazwischen ließen sich anhand von Stoffresten ehemalige Band-Shirts, Kapus und Hosen identifizieren. Die Fliegen erweckten den Eindruck an ein friedvolles Zusammenleben mit dem Mieter dieser Räumegewöhnt zu sein. Sie übertrafen an Zahl mühelos die dank Marktwirtschaft, AIDS, Anti-Terror-Kampf und den immensen innenpolitischen Erfolgen des GROSSEN KIM mittlerweile wieder schrumpfende Weltbevölkerung, genossen den Klimawandel und erfreuten sich der verfaulenden Nahrungsüberbleibsel, solange sie da waren. Um das Wohn- und Schlafzimmer stand es nicht besser.



Doch Kaffeeglück vergaß alle Insekten und die seine Nase zu dauerhafter Arbeitsverweigerung treibenden Gerüche als er seinen alten Freund entdeckte: Ausgemergelt bis auf die Knochen, seiner schon früher nicht eben zahlreichen Haare ledig und im fleischlosen Gesicht so grau wie eine ostdeutsche Hochhaussiedlung im Herbst, lag der kleine Michel nackt auf seinem Bett und starrte aus dunkelblau umrandeten Augen in den Fernseher. Mit den knochigen Fingern seiner rechten Hand bearbeitete er mitleidlos seinen blutenden, halb-erigierten Schwanz, von dem die Vorhaut bereits in Fetzen herunterhing, und gab dazu die erschütterndsten Geräusche von sich. Kaffeeglück folgte seinem Blick und sah einen früheren Motocross-Mechaniker mit Unterarm-Tätowierung, der einem mit schwarzen Lederriemen ans Bett gefesselten Schimpansen seinen mächtigen Steifen ins Hinterteil rammte als habe er die letzten zehn Jahre in einer Einzelzelle verbracht. Der Ton war abgestellt, aber das Tier schien höllisch zu schreien. "Was läuft denn da Schönes?", fragte Kaffeeglück, sich um Haltung bemühend, obwohl ihm zum Heulen war.
"Animal Fuck 17!", stöhnte der kleine Michel ohne zu ihm aufzusehen und wichste weiter wie ein Berserker.
"Michel! Michel, Mann, hör doch mal kurz auf... Ich will mit Dir reden..." Kaffeeglück hatte zum ersten mal seit langer Zeit Angst. Sein Freund sah aus, als sei er dem Tode näher als dem Leben und merkte es nicht mal. Das Laken war derart mit verkrustetem Sperma übersäht, dass seine eigentliche Farbe nicht mehr zu erkennen war.
"Nicht jetzt! Nicht jetzt! Ich hab`s gleich. Ja... ja..." stöhnte der kleine Michel wie ein Urvieh im Erstickungskampf.
"Scheiße nein! Das bringt Dich um!" brüllte Kaffeeglück und überlegte kurz seinen schwer kranken Genossen gewaltsam vom Masturbieren abzuhalten. Da er sich jedoch zu sehr ekelte, stürzte er zum Fernseher, aber der Apparat war so heiß gelaufen, dass es unmöglich war ihn ohne Schutzhandschuhe auch nur zu berühren.
"Aus dem Bild! Aus dem Bild! Ja... ja...", gurgelte der kleine Micha.
Kaffeeglück versuchte dem mit tiefschwarzen Bananenschalen und sich auflösenden Kohlblättern zugedeckten Kabel bis zur Steckdose zu folgen. Als er sie fand und dem Nachmittagsprogramm von V2 zumindest in diesen vier Wänden sein verdientes Ende setzte, war es bereits zu spät.
Der kleine Michel hatte ein letztes Zischen aus dem rohen Fleisch in seiner Hand heraus gefoltert und auf Kaffeeglück wirkte es als habe er dieses finale Wölkchen Druckluft tatsächlich aus seinen eingefallenen Lungen holen müssen. Er atmete nicht mehr. Die leblosen, geröteten Augen weit aufgerissen, sah er nach wie vor zum Fernseher. Als zwei Stunden später die albanischen Angestellten der in städtischen Diensten stehenden Entsorgungsfirma anrückten, wies die Erektionsruine zwischen seinen starren Fingern immer noch tapfer gen Himmel...

ANHANG:
Tom Abidjan mag an Onkel Toms Hütte sowie Europas Art sein Müllproblem zu lösen erinnern. Im Spätsommer 2006 wurden auf verschiedenen Deponien im Umkreis von Abidjan, Hauptstadt der Elfenbeinküste, 400 Tonnen hochgiftigen Raffmeriemülls gefunden. Ein Schiff aus Griechenland hatte den Abfall ins Land gebracht. Es gab einige Tote und weit über 1000 Menschen erkrankten.

In Ruanda fand 1994 ein Völkermord statt, der mehr als 800.000 Menschen das Leben kostete. Die westliche Welt schaute tatenlos zu.

Jeff Bridges spielte in "The Big Lebowski" überzeugend die titelgebende Hauptrolle. Dieser Figur verdankt der mit polnischen Vorfahren gesegnete Herr Dübauski die kleine Abänderung seines eigentlichen Namens.

Der Brite Ken Loach ist Regisseur und bekennender Sozialist. Ihm verdanken wir Filme wie "Land and Freedom", "Riff-Raff` und "Sweet Sixteen".

Emidio
Guerreiro war ein portugiesischer Revolutionär, der im spanischen Bürgerkrieg und danach im besetzten Frankreich gegen die Faschisten kämpfte. Später war er Mitbegründer der PPD, der demokratischen Volkspartei Portugals.

Benjamin Martin ist "der Patriot" im gleichnamigen Film von Roland Emmerich.

Zeca Afonso war ein portugiesischer Liedermacher, dessen Stück "Grandola" zur Hymne der portugiesischen Revolution wurde.

Durutti, Anarchist und Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg.

Jochen Distelmeyer ist Texter und Sänger der Hamburger Hippie-Formation KOMPOSTHAUFEN. Oder BLUMFELD, oder so ähnlich.

Bilder: 1-3 by ben frost http://www.benfrostisdead.com/ 4-5 by BanKSy http://www.banksy.co.uk/menu.html



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