BÄRCHENWURST (J.G.)

Freitag, 29. März 2024 um 15:56 - monsignore genickschuss
von j.guthrie
"I ain't got no home in this world anymore"
(Woody Guthrie)
Die meisten Fenster dunkel, aus den anderen nur blaues Licht. Man quält sich mit seinen Träumen oder sucht das Vergessen. Manche trinken noch, andere haben das schon hinter sich. Es ist nicht nur die Stadt, die stirbt. Die Blätter am Straßenrand faulen kaum schneller als Zähne, Beine, Herzen und das Glück. Hier gibt es Nichts. Und das ist nicht einmal weniger als anderswo...
Bärchenwurst war vor etwa einem Jahr in die Stadt gekommen. Wann genau wusste er nicht mehr. Gleich am ersten Abend hatte er Karl, den Hundemetzger, kennen gelernt, im Landsknecht, zwischen zwei Herrengedecken. Karl hatte versucht der Wirtin ihren altersschwachen Mischling abzuschwatzen und aus seinen weiteren Absichten dabei keinen Hehl gemacht. Er hatte prüfend den hängenden Wanst des müden und ein wenig verklebt wirkenden Köters befummelt und dann grob geschätzt wie viel Pfund Mett sich daraus gewinnen ließen. Bärchenwurst, der immer eine Zwiebel bei sich trug und seit zwei Tagen keine feste Nahrung mehr zu sich genommen hatte, hatte sich sofort angeboten dem Vieh das Fell über die Ohren zu ziehen. So wurden sich die beiden auf Anhieb sympathisch.
Gegen drei Uhr morgens, nach dem Verschwinden der übrigen Gäste und etlichen, von Karl finanzierten Schnapsrunden, hatte die anfänglich starke Ablehnung der nun sehr anlehnungsbedürftigen Wirtin begonnen sich in Gleichgültigkeit gegenüber ihrem vermutlich langjährigen Begleiter und sexuellen Avancen in Richtung des geschäftstüchtigen und mindestens dreißig Jahre jüngeren Metzgers aufzulösen. Schließlich hatte Karl ein großes, glänzendes Fleischermesser aus seinem schwarzen Ledermantel gezogen, es Bärchenwurst mit der Bemerkung "Ich die Arbeit, Du das Vergnügen" in die Hand gedrückt und war mit der betagten, nahezu orientierungslosen Dame in einem Hinterzimmer verschwunden. Bärchenwurst hatte sich noch eine Weile am Korn bedient und den teilnahmslos dreinblickenden Hund dann in die weder häufig genutzte noch regelmäßig gereinigte Küche der Kneipe geführt. Manches Leben endet im Schlaf, Günnis, wie sein Halsband und sein Frauchen ihn nannten, endete in einer Spüle, deren Abfluss mit Spätzle verstopft war. Am darauf folgenden Nachmittag hatte Bärchenwurst, in der einen Hand eine Tüte mit Fellstücken in der anderen zwei mit Fleisch, seinen neuen Job angetreten. Dass er in der Frühe noch dran gedacht hatte die 33 Packungen Kroketten aus dem Eisschrank der Wirtin zu räumen um Platz für die leicht verderbliche Ware zu schaffen, hatte Karl schwer beeindruckt.
Die folgenden Monate wurden die zweitbeste Zeit in Bärchenwursts Leben. Die beste lag fast eine Dekade zurück und hatte ihren Schlusspunkt in einem von seiner ersten Freundin auf ex geleerten, äußerst rasanten Wodka-Ecstasy-Cocktail gefunden. Gespräche mit Koma-Patienten haben etwas deprimierend Einseitiges an sich und nachdem Bärchenwurst seine Wohnung ihrem endgültigen Verfall anheim gegeben und sich schweren Herzens wieder auf den Weg gemacht hatte, war er lange Zeit allein geblieben. An das Zusammenleben mit Karl gewöhnte er sich dennoch sehr schnell. Die Metzgerei lag, ein wenig versteckt, neben einer halblegalen Autowerkstatt, in einem bei Sonnenschein Licht durchfluteten Hinterhof, der mit seinen verwilderten Rasenflächen und Büschen zwei Katzen und drei pakistanischen Kindern als Spielwiese diente. Karls Wohnung befand sich direkt über seinem Geschäft.

Als er einige Monate zuvor seinen schlecht laufenden anarchistischen Buchladen in einen Fleischereibetrieb verwandelt hatte, war seine Verlobte, ohne auch nur noch ein einziges Wort mit ihm zu wechseln, ausgezogen. Karls Beteuerungen, abgesehen von Hunden wirklich jedes noch so kleine Lebewesen zu respektieren, ja sogar zu lieben, konnten ihr, vom zähen Kampf für Tierrechte inzwischen verhärtetes Herz nicht mehr erweichen und so kam es, dass Bärchenwurst nun ihr altes Zimmer bezog. Karl zahlte ihm 400 Euro Vorschuss und die beiden kauften erst mal zusammen das Nötigste ein: Einen Plattenspieler, eine alte CLIFTON CHERNIER-Scheibe und die "London Calling"-Do-LP von THE CLASH, ein MISFITS- und ein HANK WILLIAMS-Poster, eine Matratze und eine Schreibtischlampe. Die übrigen Möbel stellte nach und nach der Sperrmüll bereit. Von zehn bis vierzehn Uhr arbeiteten sie in der Metzgerei :wobei sie jeden Tag auf's Neue darum würfelten wer schlachten durfte und wer verkaufen musste-, die Nachmittage verbrachten sie schlafend oder lesend, und wenn es dunkel wurde begannen sie zu trinken. Während der Neue Markt zusammenbrach und der Dienstleistungssektor, der ursprünglich mal die Schwerindustrie hatte ersetzen sollen, neue Arbeitsplätze weiterhin hauptsächlich im Bereich des örtlichen Straßenstrichs gebar, stieg Karls Profit in solche Höhen, dass er gegenüber Bärchenwurst im Suff bisweilen von Expansion sprach. Zwar spaltete die Metzgerei, die auf Bärchenwursts Vorschlag mittlerweile den Namen "Dogs' Hell" trug die lokale Punkszene in zwei Lager. Die vegane HC-Fraktion hatte tatsächlich eine Demo erwogen und verwarf den Plan nur deshalb wieder, weil sie nicht gemeinsam mit den Bahnhofsvorplatz-Sitzern und ihren zumeist schlimm verlausten, vierbeinigen Freunden marschieren wollte. Dafür entwickelte sich Karls Laden aber langsam zu einem Geheimtipp auch unter den besser verdienenden Hundehassern der Stadt und der Manager des von öffentlicher Hand und aus spärlichen Spenden dauerhaft unterfinanzierten Tierheims, der ebenfalls eher ein Katzen-Typ war, lieferte kostengünstig einen großen Teil des jaulenden Nachschubs. Manchmal gingen Bärchenwurst und Karl allerdings auch noch selbst auf die Jagd. Von José, einem unermüdlichen Antifa-Aktivisten, erhielten sie eine Adressenliste mit den Namen aller bekannten Neonazis der Region. Neben den Funktionen einzelner Kader war auf diesen 122 Seiten unter anderem vermerkt welche kahlköpfigen Totschläger sich welche Hunde hielten. Nero Wallenstein, der Kopf der Kameradschaft "Teutonia Rheinland" etwa, besaß einen Pitbull und einen Mastino. Mehrere Wochen lang observierten Bärchenwurst und Karl wann immer sie Zeit fanden die fünfstöckige Mietkaserne, in der der stets akkurat rasierte Fettschädel und seine nicht minder kräftigen Tölen zu Hause waren.
Der Sommer lag schwer und triefend über dem Land als sich ihnen endlich eine günstige Gelegenheit bot. Nero Wallenstein organisierte in irgendeiner Vorstadtkneipe mit Kegelbahn ein Konzert von SATAN 88, DEIBEL 14 und GAS-TOIFEL, drei sächsischen Black Metal Bands aus Riesa, um auf diesem Wege Geld für einige inhaftierte Kameraden zu sammeln, die zu Weihnachten statt einem Asylbewerberheim irrtümlich einen Kindergarten abgefackelt hatten. Am Tag der Veranstaltung verließ er das Haus bereits am späten Nachmittag und vor drei Uhr früh war mit seiner Rückkehr nicht zu rechnen. Seine Wohnungstür auch ohne Schlüssel zu öffnen, stellte für Bärchenwurst, der schon im Alter von 17 erfolgreich eine Nachtschlosser-Lehre absolviert hatte, keine besondere Herausforderung dar und die Betäubungspfeile die ihnen Leiche, ein im örtlichen Zoo beschäftigter Genosse besorgt hatte, erledigten den Rest. Ohne Spuren in der Wohnung oder am Türschloss zu hinterlassen trugen sie die hässlichen Viecher dann in blauen Müllsäcken zum Auto und fuhren zurück zur Metzgerei. Sie schlachteten sie koscher und mit einigem Genuss und beschlossen nach und nach die ganze Liste abzuarbeiten um so ihren ureigenen Beitrag zur Entwaffnung der hiesigen Fascho-Szene zu leisten. Nie zuvor hatte ihnen politisches Engagement so viel Freude bereitet. Ihre Beute verkauften sie unter der Parole "Kraft durch NKF" nur an ausgesuchte Stammkunden und obwohl das Nazi-Köter-Fleisch nicht mal besonders gut schmeckte, fand es rasch eine gierige Abnehmerschar.

Dann kam der Tag, an dem Karl sich aus einer Wein-Laune heraus einen Anker auf den Oberarm tätowieren ließ und dabei Kiara kennen lernte. Kiara bezeichnete sich selbst als freie Künstlerin, war jedoch nach Bärchenwursts Einschätzung kaum begabter als eine Tasse Hagebuttentee. Sie war in einem ostdeutschen Kinderheim aufgewachsen, hatte mit sechzehn eine Weile auf der Straße gelebt, dann einen Tätowierer geheiratet, bei ihm gelernt, sich wieder scheiden und zu guter letzt bis ins Ruhrgebiet treiben lassen. Obgleich geschminkt wie ein Mitglied der Adams-Family, wirkte ihr schmales Gesicht noch sehr jugendlich und schlichte Gemüter glaubten in ihren tiefen dunklen Augen zumeist eine anziehende Mischung aus Lebenshunger und Melancholie zu finden. Karl verliebte sich sofort in sie und spielte solange den Rosenkavalier bis sie sich schließlich zu einem gemeinsamen Konzertabend überreden ließ. Zu dem gar nicht üblen Gebrüll von EDUSCHO NERVT und ABRISSBIRNE wurden die beiden ein Paar und binnen weniger Tage musste Bärchenwurst, der Kiara schon nach ihrer ersten Begegnung als selbstsüchtig und berechnend beschrieben hatte, seine Freizeit wieder alleine verbringen. Während er sich verbissen und mit etlichen Flaschen Schnaps durch Sartres Gesamtwerk kämpfte, drangen in den folgenden Wochen hauptsächlich Schreie der Lust aus Karls Zimmer an sein Ohr und nicht einmal die DEAD KENNEDYS vermochten dagegen etwas auszurichten. Es wurde Herbst bis sich die Geräuschkulisse veränderte, die Paarungslaute weniger wurden und dafür zunehmend wütendes Gekreische zu hören war. Kiara wollte wieder öfter auf Partys gehen, während Karl behauptete er sei dafür zu alt und als er eines Nachts in einem Internet-Forum auf Tom stieß, der bei ihr einen ganz privaten Body-Painting-Kurs besuchte, erfuhren seine Verlustängste ihre Bestätigung.
Das Ende kam mit einem letzten großen Streit. Bärchenwurst legte sich in der Küche gerade eine Scheibe Collie-Schinken auf's Brot, als er Karl schreien hörte: "Nein verdammt, ich lasse mir meinen Pimmel nicht piercen!" Direkt im Anschluss stürzte Kiara aus seinem Zimmer, keifte "Dann fick dich doch, du Waschlappen!" und verschwand für immer. Bärchenwursts Versuche Trost zu spenden, wies Karl mit einem weinerlichen "Jetzt nicht. Lass mich allein..." zurück. Als Bärchenwurst am nächsten Morgen einen neuen Anlauf wagen wollte, war Karl schon tot. Er hatte sich mit seinem Fleischermesser selbst die Kehle durchtrennt und lag in einer riesigen Blutlache auf seinem Bett...
Der Bahnhof ist jetzt in Sichtweite. "Gleich wohin ich gehe", denkt Bärchenwurst, "Hunde zu töten wird nie wieder das Selbe sein." Er knöpft Karls Ledermantel zu und spürt das Messer darunter an seiner Brust. "Aber irgendjemand muss es ja tun...".
Es ist vier Uhr als er ohne Fahrschein in den Zug nach Hamburg steigt. Die Welt ist groß, nur ohne Heimat ziemlich leer.

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