Kauft Arbeits-Lose! + Von der Bürgerpflicht (KP)

Freitag, 29. März 2024 um 09:57 - futziwolf

Kai Paetow

Der Autor:
Ich bin kein "professioneller" Schreiber, das vorweg. Aber Textmensch aus Leidenschaft. Literaturliebhaber, (ehemaliger) Blogger, Werbetexter (versuchsweise), Sozialwissenschaftler, kritischer Zeitgenosse, dessen Augenmerk sozialen Missständen gilt: der Armut, den Ungerechtigkeiten, der Not der Marginalisierten, Prekarisierten, Exkludierten.
Um diese Themen kreisen denn auch meine Texte. Bis auf meine Gedichte haben alle einen quasi-journalistischen Touch. Sie lesen sich wie Reportagen oder narrative Interviews, sind aber durch und durch fiktiv - ohne jedoch die soziale Realität auszublenden. Ganz im Gegenteil: Die "Geschichten" nehmen die bundesdeutsche Wirklichkeit, die bittere vor allem, zum Ausgangspunkt, analysieren sie und werfen ein anderes Licht auf sie. Nicht selten wird sich auch lustig gemacht: über eine Politik, die nur herumirrt und keine Abhilfe schaffen kann. Vieles ist Satire pur.
Aber seht selbst. Kauft Arbeits-Lose! ist so eine Art "Quasi-Reportage" über einen Arbeitslosen aus Bremerhaven. Eine "faktionale" Story, also eine Mischung aus Facts und Fiction. 

Arbeitslosigkeit ist wahrlich kein Zuckerlecken und bietet im Grunde auch keinen Anlass zum Schmunzeln. Doch mitunter tragen sich selbst in dieser schwierigen Lebenssituation drollige Alltagsgeschichten zu. Wie die eines gewitzten Arbeitslosen, der die zündende Idee hatte, wie er seine Arbeitsagentur narren kann : und nicht nur die.
von Kai Paetow

Kauft Arbeits-Lose!
Bremerhaven im September 2006 : Wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, muss man erfinderisch sein und zusehen, wie man der misslichen Lage entkommt : das sagte sich Walter Dombrowski*, 56, Hartz-IV-Empfänger. Der ehemalige Elektromechaniker ist seit 2002 ohne feste Arbeit, aber nicht ohne Hoffnung. "Irgendwas geht immer" lautet seine Devise. Aufgeben? Niemals, sollten die Aussichten auch noch so ungünstig sein.
Was sie nüchtern betrachtet sind: Arbeitssuchende seines Alters gelten gemeinhin als schwer vermittelbar. Und Bremerhaven gehört nicht gerade zu den Boom-Regionen. Im Gegenteil: Mit einer Arbeitslosenquote von fast 20 Prozent hält Bremerhaven einen traurigen Negativ-Rekord in Westdeutschland.
Als seine Fallmanagerin vom ARGE Job-Center Bremerhaven ihm damit drohte, seine Bezüge drei Monate lang um 30 Prozent zu kürzen : Dombrowski hatte es zum wiederholten Male abgelehnt, einen Ein-Euro-Job anzutreten :, zeigte er sich unbeeindruckt: "Nur zu, ich werd's überleben."

Das ließ sich die ARGE-Mitarbeiterin nicht zweimal sagen. Prompt wurde ihm die Grundsicherung zusammengestrichen. Zurzeit erhält Dombrowski noch rund 240 Euro statt der 345 Euro, die als Regelsatz für Langzeitarbeitslose vorgesehen sind.

100 Euro weniger im Monat : kein Pappenstiel für einen Hartz-IVler. Kürzer treten wollte Dombrowski nicht. Wie auch? Ab einem bestimmten Punkt kann sich selbst der größte Sparfuchs nichts mehr abknapsen. Was besorgt werden muss, muss besorgt werden: die Dinge des täglichen Bedarfs, Nahrungsmittel in erster Linie. Und: "Ausgehen will man ja auch mal, mit den alten Kollegen einen trinken und so", sagt Dombrowski. "Um abzuschalten. Damit man nicht ewig und drei Tage der alten Zeit nachtrauert, als wir alle noch Arbeit hatten."
Wirklich niedergeschlagen sieht er nicht aus. Und dafür gibt es auch einen Grund. Sein "Geschäftsmodell", das er nach eigenem Bekunden in einer bierseligen Nacht ersonnen hat, ist ein voller Erfolg geworden. Er verkauft Lose, "Arbeits-Lose". Da klingelt die Kasse : aber so richtig.
Jeden Tag postiert er sich mit seiner Lostrommel vor der Agentur für Arbeit in der Grimsbystraße. Häufig schon vor acht Uhr morgens. "Arbeits-Lose zu verkaufen, kauft Arbeits-Lose!", ertönt seine kräftige Stimme.
Ein eigenhändig erstelltes Hinweisschild, das er sich umgehängt hat, präzisiert, was es zu gewinnen gibt: einen "Arbeitsplatz mit Perspektive". Ein Los nur 20 Cent, drei Lose 50 Cent. "Mit freundlicher Unterstützung Ihrer Arbeitsagentur und der Handelskammer Bremen" steht auf dem Schild geschrieben. Die Aufmerksamkeit der zahlreich heranströmenden Arbeitssuchenden ist ihm sicher.

So weit ist es also schon gekommen: Die Arbeitsagentur verlost Arbeitsplätze. Wer wird da nicht stutzig?!
"Stimmt natürlich nicht", meint Dombrowski augenzwinkernd. "Aber nicht weitersagen. Sonst brechen meine Geschäfte ein". Die jedenfalls sind fürs Erste gut angelaufen. An manchen Tagen stehen die Leute Schlange, um ihr Glück zu versuchen. Dann blickt Dombrowski in all diese sorgenvollen Mienen, die fahrigen Gesichtszüge von Menschen, die sich vor dem sozialen Abstieg fürchten. Noch beziehen die meisten von ihnen Arbeitslosengeld I. Aber demnächst schon könnte ihnen Hartz IV blühen. Falls sie nicht bald den rettenden Arbeitsplatz finden.
Diejenigen, die das Agenturgebäude ohne konkretes Jobangebot in der Tasche verlassen, sind seine besten "Kunden". Viele von ihnen investieren dann auch gleich 50 Cent: drei Lose, drei Chancen, der Armut zu entgegen. Drei Glücksversprechen.

"Leider nicht gewonnen" steht auf jedem Loszettel, den Dombrowski am heimischen Computer entworfen und in einem Copy-Shop tausendfach vervielfältig hat. Drei Worte, die die arbeitslosen Glücksritter nur noch geknickter dreinschauen lassen, wenn sie sie gezogen haben. Pech gehabt, wieder nichts. Wenn's schief läuft, läuft's richtig schief. Da helfen auch keine "Arbeits-Lose".
Eigentlich tun ihm seine "Kunden" ja leid, gibt Dombrowski unumwunden zu. Er führt sie bewusst hinters Licht. Einen Arbeitsplatz kann er natürlich nicht anbieten. Wo sollte er den auch hernehmen? "Mit den Losen verkaufe ich ein Stück Hoffnung, Hoffnung darauf, dass es auch wieder aufwärts geht", rechtfertigt er sich.
Schleierhaft bleibt allerdings, wie ernst es Dombrowski ist. Mitgefühl scheint nicht die Triebfeder zu sein. Eher schon ein verquerer Geschäftssinn. Gut 80 Euro hat er seinen Schicksalsgenossen allein in den ersten drei Wochen abgeköpft. Seine Masche zieht offensichtlich. Verzweifelte Menschen sind leichte Beute.
Aber nicht jeder lässt sich so einfach abzocken. Alle naslang kommt es zu Diskussionen. Manch einer empört sich schon mal lautstark: "Das ist doch reine Verarsche hier." Dombrowski nimmt die Vorwürfe regungslos hin. Bloß nicht zurückblöken, sagt er sich. Wozu auch? Solange die Lose reißenden Absatz finden, können ihm die Nörgler gestohlen bleiben.

"Viele sind einfach mit den Nerven am Ende. Die kommen mit der ganzen Situation der Arbeitslosigkeit nicht zurecht, die machen sich nur noch Sorgen und verstehen überhaupt keinen Spaß mehr", analysiert der selbstbewusste Losverkäufer.
Ob er keine Angst habe, aufzufliegen und sich Ärger mit den Behörden einzuhandeln? "Nö", meint er, verschmitzt lächelnd. Man ahnt, warum er dabei so gelassen ist: Sein Losverkauf wird als witzige Ein-Mann-Demo erachtet. Wahrscheinlich auch von den Angestellten der Arbeitsagentur, denen er vorm Haupteingang längst aufgefallen sein dürfte. Da leistet sich anscheinend jemand einen Gag.
Aber für Dombrowski selbst ist das Ganze alles andere als eine Spaßveranstaltung. Ihm geht es ums Geldverdienen und um nichts anderes. Er versuche nur, seinen "Verdienstausfall" auszugleichen, sagt er. Die 100 Euro, die ihm seine ARGE gestrichen hat, müssten wieder reingeholt werden.
Zwei Monate will er seine Los-Aktion noch fortführen, bis ihm die ARGE wieder den vollen Regelsatz zahlt. Für seinen letzten Arbeitstag hat er sich etwas Besonders einfallen lassen. Zum Schluss soll ein echter Gewinner gekürt werden. Dem Glückspilz, der das große Los gezogen hat, wird eine Stelle angeboten: seine eigene nämlich, die selbstgeschaffene des Los-Verkäufers vor der Arbeitsagentur. Die Lostrommel, das Werbeschild und die verbliebenen "Leider nicht gewonnen!"-Zettel sind im Preis inbegriffen.
"Einem anderen seinen Arbeitsplatz überlassen : das ist überaus großmütig und beweist eine zutiefst soziale Gesinnung", prahlt Dombrowski. Der ironische Unterton ist nicht zu überhören, sein Lächeln verrät ihn.
So sieht er also aus, der erfolgreiche Mikro-Unternehmer im Hartz-IV-Land: wie Walter Dombrowski, dieser sympathische Schalk aus Bremerhaven.

* Name geändert

Von der Bürgerpflicht
von Kai Paetow
Du bist ein freier Konsument
in einem freien Land.
Du kaufst ein,
wann du willst,
wo du willst.
Du bist ein mündiger Bürger
in einem freien Land.
Du sagst, was du meinst,
wann du willst,
wo du willst.
Du bist ein rechtschaffener Mensch
in einem freien Land.
Du handelst, wie es sich geziemt,
weil du willst.
Weil du sollst.
Alles recht so.
Du wählst Güter, Menschen, Parteien.
Du manipulierst Gefühlszustände:
eigene vor allem.
Du denkst an dich.
Und an die anderen.
Du lebst bewusst,
sorgenfrei.
Konsum tut gut.
Konsum tut Not,
verkünden die Experten.
Konsum : das Allheilmittel.
Die Ausflucht, die Rettung.
Du befolgst den Rat,
kennst keine Limits
beim Geldausgeben.
Du musst ein edler Bürger sein,
ein guter Konsument.
Deutschlands Liebling.
Einkaufsheld.
Die Welt steht dir offen.
Nicht nur andere Länder, Urlaubsorte.
Die hiesigen Innenstädte mit ihren Tempeln,
den Boutiquen, Fachgeschäften, exquisiten Restaurants.
Du zahlst
für Qualität,
perfekten Service,
Emotion.
Für stilvolles Interieur,
Markenglanz,
Erhabenheit.
Du bist es dir wert,
auch aus Liebe zu deinem Land.
Du hast die Lektion verstanden.
Wir sind stolz auf dich.
Wir gratulieren dir.
Du bist die Zukunft.
Ein Vorbild für uns alle.
Weiter so,
werter Bundeskonsument.

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