LAZARUS - Gedanken eines Süchtigen (JS)

Donnerstag, 25. April 2024 um 11:12 - futziwolf
von Jan Schleevogt
mit freundlicher Erlaubniss zur Ausschlachtung von INSIDE - ARTZINE
http://home.arcor.de/jenzzz/

Dies ist eine menschenleere Straße und wenn hier noch so viele atmende Kreaturen um dich herum sind. Aus der Ferne höre ich unmenschliche Grunzlaute und leises Wehklagen. Nichts davon berühert mich.
Ich bin der Mann auf der Bühne. Ich bereite mich auf meine Performance vor, warte auf meinen großen Augenblick. Ein anderer Teil von mir befindet sich derweil in der Garderobe, kauert in der Ecke und wehrt die uralten Geister ab.
Doch wir wollen nicht dort verweilen. Zurück zur Bühne, wo ich mmer noch stehe und in das Scheinwerferlicht starre. Irgendwann wendet sich mein Blick ab, durchsucht den Theatersaal. Anfangs habe ich Angst, daß niemand gekommen ist, um meine Darstellung zu bewundern, doch dann - oh götllicher Augenblick - sehe ich mein Publikum, sehe ihre weißen, leeren, emotionslosen Augen.
Das ist der Moment, wo mir alles klar wird.
Alle Aufmerksamkeit lastet auf mir, ich bin der Mittelpunkt des privaten Universums.
"Meine Damen und Herren!" schreie ich von dem Podium herunter, während die kalkweißen Gesichter mich still und völlig desinteressiert betrachten. "Meine Damen und Herren! Hier stehe ich nun vor Ihnen, ein ergebener Diener der schönen Künste! Lassen Sie mich beginnen, lassen Sie mich Ihre Augen blenden!"
Ich wartete suf den Applaus, der niemals kommen soll.
"Sehet her!" kreischte ich mein Publikum an.
Und schon hole ich die mit eitrigem Blut gefüllte Spritze hervor und hebe sie theatralisch in die Höhe.
Jetzt bin mir wieder diesem anderen Selbst bewußt, das dort in der Garderobe kauert und um Hilfe schreit.

Ich wundere mich, dass niemand SEINE Schreie hört, doch dann verdränge ich dieses jämmerliche Selbst aus meinen Gedanken.
Ich setze meine Performance fort, indem ich die Spritze langsam und dramatisch auf einen bereitgestellten Tisch ablege. Ich blicke weise lächelnd mein Publikum an und beginne dann, mich auszuziehen. Erst das Hemnd und die dreckverkrustete Hose, dann die Strümpfe und die Unterwäsche, bis ich völlig nackt dastehe.
Ich hebe meine alte Jeanshose hoch und zeige sie mit feierlichem Gesichtsausdruck dem Publikum. In diesem Augenblick dringt ein leiser, aber unangenehmer Geruch in meine Nase. Ich tue das, was ich immer getan habe... ich verdränge ihn ebenso wie das winselnde Häufchen Elend in der Garderobe.
Ich ziehe den Gürtel von meiner Hose ab. Ich lasse die Hose wieder fallen und bemerke plötzlich, dass das Scheinwerferlicht noch heller und heißer geworden ist. Schweiß rinnt langsam an meinem Körper herab, bahnt sich seinen Weg an der grauen, sterbenden Haut entlang und versickert an manchen Stellen in den Heroinlöchern.
"Meine Damen und Herren", krächze ich in freudiger Erwartung und willenloser Gier. "In diesem Theater gibt es keine Tricks, keine Spiegel und keine Lasershow. Hier sind nur Sie und ich, meine geschätzten Damen und Herren! Lassen Sie uns hier und heute endlich Menschen sein!"
Sind das jetzt Tränen, die an meinem mit Geschwüren übersäten, eingefallenen Gesicht entlangrinnen? Das kann nicht sein. Ich habe vor Jahren das Weinen verlernt.
Ich will nicht, dass mir die Kontrolle über meine Performance aus den Händen gleitet. Woher kommen also die Tränen? Sie können... nein... sie können unmöglich die Meinigen sein. Ich erinnere mich wieder an diesen unwürdigen Nichtsnutz, der sich in der Garderobe dem Selbstmitleid hingibt. Scheiß auf dich, du Bastrad. Diese Tränen gehören dir!

Abermals Verdrängung! Und weiter geht die Show. Ich will die Zuschauer fesseln, ich möchte sie WISSEN lassen!
Mit geübter Bewegung fange ich nun an, meinen rechten Arm mit dem Gürtel abzubinden, worauf ich das kranke, alte Blut pochen hören kann. Müde Adern treten aus dem Arm hervor und erwarten hungrig ihre Nahrung.
"Es beginnt", zische ich heiser von meinem Podium herunter, während ich die mit eitrigem Blut gefüllte Spritze wieder zur Hand nehme. "Dies ist ein gottverdammt wichtiges Ritual!" krächze ich zornig.
Sind SEINE Tränen etwa wieder da? Nein nein nein, scheiß auf ihn scheiß auf ihn!!!
Die Nadel sucht fieberhaft eine halbwegs intakte Vene, die noch imstande ist, das lebensnotwendige Elixier in sich aufzunehmen. Kaum, dass sie sie gefunden hat, versinkt sie auch schon und jagt den Inhalt der Spritze hinein.
Ich kann spüren, wie mein Körper bebt in Erwartung eines spirituellen Orgasmus. Ich spüre seine Macht kommen!
Eitriges Blut vermischt sich mit dem Blut der einsamen Jugend, läßt mich für Sekunden, Minuten... nein, Jahre wieder Kind sein! Oh Zeit spielt für uns Süchtige keine Rolle. Wir warten einfach nur mit unbeschreiblicher Geduld auf unsere nächste Ration. Wir leben in Heroinzeit. Das ist unsere Epoche.
Und wenn diese Zeit angebrochen ist, dann wissen wir für die jammervolle Dauer unseres inneren Kampfes, dass wir lebendig sind!
Ich ziehe die Nadel wieder aus meiner Vene und werfe die Spritze mit letzter Kraft in das Publikum. Scheiße, was für ein trauriger Haufen.
Der Geruch ist plötzlich wieder da, der Geruch der Verwesung. Ich weiß, woher er kommt. Das Scheinwerferlicht wird immer greller, bildet eine Mauer, die mich von den Zuschauern trennt... ich kann sie nicht mehr sehen. Ich bin mir nur der Stille bewußt und dem furchtbaren Gestank!
Wow, denke ich. Die verwesen da unten. Meine Zuschauer verwesen da unten.

Ich versuche die ganze Situation mit einer lustigen Anekdote zu entspannen. Das ist mein Job. Ich muß mein Publikum fesslen, muß sie in Ehrfurcht erstaunen lassen.
Ich sage: "Ich kannte mal einen Barbituratsüchtigen, der sich in den Entzug begab. Bekam furchtbare Halluzinationen und epileptische Anfälle! Wälzte sich in seiner Zelle wie ein Wahnsinniger herum und verlangte schreiend nach Stoff! Er hatte schon vorher ausgesehen wie ein tollütiges Tier, aber jetzt... Er kreischte und brüllte und rief:` Wenn das euer Entzug ist, dann krepiere ich doch lieber mit der Spritze im Arm!`".
Das Publikum zeigte keine Reaktion. Das Scheinwerferlicht wendet sich langsam von mir ab und gibt den Blick frei auf die Zuschauer. Es trifft mich wie ein elektrischer Schlag.
Die Leute da unten sehen aus wie ich. Sin sind alle nackt, sie starren zu mir hinauf mit ihren leeren, toten Wachsgesichtern. Sie sind ICH bin SIE.
"Noch eine Geschichte, meine Damen und Herren!" krächze ich heiser. "ich kannte mal einen dreizehnjährigen Jungen, der auf Stoff war und sich für Geld von pädophilen Drecksäcken auf der Bahnhofstoilette einen blasen ließ. Man tut alles, um an das Heroin zu kommen, wißt ihr!
Natürlich wißt ihr!
Der Junge lebte in seiner eigenen Heroinzeit! Man stumpft ab. Die Lippen, die sich um deinen Schwanz schließen, spielen irgendwann keine Rolle mehr! Es geht hier nur um Stoff, verstanden! Das ist das wichtigste! Der Faktor, der alles andere nichtig erscheinen lässt. Doch zurück zu dem Jungen! Als der pädophile Geldsack fertig war, fragte er den Jungen ob es ihm auch so gefallen hätte. Und der Junge blickte seine Geldquelle grinsend an und sagte: `Mein Vater war besser! Nichts für ungut!` Hahahaha!!!!!!"
Natürlich ist das Lachen aus meinem Munde nicht echt. Es ist der Hilfeschrei eines trostlosen, ausgebrannten Geschöpfes, das jetzt in der Garderobe wartet.

"Jetzt die Pointe!!!" kreische ich wütend in die Menge. "Jetzt die Pointe. Der Junge bin ich selbst!"
Die einzigste Reaktion des Publikums ist ihr unnatürlich schneller Verwesungsprozess. Ich stehe also auf der Bühne und sehe mir selbst - mein Gott - mir selbst beim Verfaulen und Zerfallen zu.
Ich möchte noch eine Geschichte erzählen, ich möchte noch eine weitere witzige, aber wichtige Anekdote zum besten geben, doch plötzlich richtet sich das Scheinwerferlicht wieder auf mich.
Ich glaube, dass ich es begreife.
Natürlich bin ich nicht hier auf der Bühne. Ich bin auch nicht dort unter den Zuschauer. Ich bin auch nicht das jammerne Häufchen Elend in der Garderobe, das ich hasse. Die Wahrheit sieht anders aus.
Ich sitze auf der Straße und starre den nassglänzenden Asphalt an. Nur eine der vielen Nebenstraßen. Ich bin umgeben von hunderten oder tausend Artenossen. Wir sind kein Menschen mehr, wir sind für die Gesellschaft und für uns gestorben.
Der Bankier lebt nicht in unserer Heroinzeit!
Ein Teil von mir steht auf der Bühne und will es allen zeigen ein anderer kauert noch immer in der Garderobe hinter dem Theaterpodium und weint, und ein weiterer Teil meiner Selbst sitzt dort unten auf den Zuschauerplätzen und sieht mit emotionslosen Augen dem eigenen Zerfall zu.
Meine Straße ist überfüllt von Süchtigen. Wir sind nicht allein, aber wir sind dennoch einsame Zombies, die niemals in der Lage sein werden, Erlösung zu finden.
Alles in Allem ist dies eine gottverdammt menschenleere Straße.



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