Wo es schmerzt, da greift man hin !!! (6)

Samstag, 20. April 2024 um 03:41 - monsignore genickschuss
WORTE DES MONATS von MONSIGNORE GENICKSCHUSS:
Von den wirklich wichtigen Dramen der Menschheit ...


GOD SAVE THE V.
Keine Handys, keine Nazis, keine Kreditkarten, keine den Pesthauch der Vanille verbreitende Raumluftverbesserung und nur selten eine Frau.
Wer von seiner Sucht getrieben, schwitzend vor Gier, das erste mal durch diese bunt beklebte und freudig scheppernde Tür ins Innere tritt, wird allerdings zunächst nichts Anderes bemerken als das schwarze Gold, das hier tausendfach, mal hübsch, mal lieblos verpackt und seit Jahren in überfüllte Regale gepfercht, seiner Befreiung harrt. Ein Büffeljäger interessiert sich primär für die Herde vor ihm, vielleicht noch für mögliche Konkurrenz, die in der Nähe lauern könnte, aber gewiss schert er sich, ganz konzentriert auf sein Ziel und die notwendige Beherrschung seiner ihn andernfalls zittrig machenden Erregung, einen Dreck um die Schönheit der Landschaft.

So steht der moderne Buffalo Bill mit weichen Knien vor unzähligen potentiellen Trophäen und weiß in seiner Tasche gerade dreißig Schuss, während seine geübten Augen ohne Rast über die beschrifteten, grauen Plastiktrenner hetzen und herauszufinden suchen, nach welchen Kriterien der Schatz sortiert wurde, in welchen Ecken der zu vernachlässigende Plunder verstaubt und in welchen sich vielleicht einige bezahlbare Prachtstücke gerade für ihn aufgehoben haben. Er will in diesem Moment der totalen, seinen Kreislauf an seine Grenzen treibenden Anspannung, nicht wissen, ob es die STONES oder irgendwelche anderen Hippie-Millionäre sind, die ihm, als Soundtrack zu seinem Ringen mit sich und dem Überangebot, ihre nutzlosen, meist erbärmlich dämlichen Geschichten von Sex und Drogen vorsingen. Er ist, im Idealfall, ohnehin kein Teppichkleber oder Wiesenhänger und war nie auf Wallfahrt zum Big Zeppelin.
Ist er in Begleitung eines sogenannten Freundes, in der Regel eines anderen Junkies, der im ungünstigsten Fall exakt denselben Stoff benötigt, wird er nach einer nur Sekunden dauernden Überprüfung, rasch an den Mainstream-Regalen links und rechts der Tür vorbeieilen und mit ebenso schnellen wie großen Schritten dem hinteren Teil des etwa drei-Arbeiterklassewohnzimmer-großen Raumes zustreben. Dabei wird er die Theke passieren, die aus einem hell furnierten Schreibtisch besteht und gemeinsam mit zwei brusthohen Holzbarrieren sowie der rechts liegenden Seitenwand ein gemütliches Viereck bildet. Dies ist das nur mit ausdrücklicher Genehmigung zu betretende Reich des Besitzers und wird erst später die Neugier unseres Jägers auf sich ziehen, denn noch bevor er seinen Kopf in diese Richtung wenden muss, um die den Wettlauf bestimmende Frage laut zu stellen, wird ihm ein DEAD KENNEDYS- THE DAMNED oder THE CLASH-Schriftzug unweigerlich den Weg zum Paradies weisen.

Dort, an der linken Seitenwand, thront ein beinahe bis zur Decke reichendes, zwei Meter breites und in zwanzig Fächer unterteiltes Holzregal, welches mindestens ebenso viel Punk- und Indie-Vinyl beherbergt wie jenes, das unser wackerer Sammler in seinem Wohn- und Schlafraum errichtet und binnen weniger Jahre bis zum Platzen gefüllt hat.
Menschen, die sich hauptsächlich für Fußball, Herrengedecke oder das jüngst geborene Aristokratenbalg von Prinzessin Überflüssig und Prinz Parasit interessieren, werden bereits mit dem bisher Geschilderten nicht viel anzufangen wissen. Die sich nun bis zur Panik steigernde Hektik der beiden Neukunden und längst zu Todfeinden gewordenen Kontrahenten aber wird sie, in völliger Verkennung der zu Grunde liegenden Motivation, nur noch an das Gerangel des letzten Sommerschlussverkaufs erinnern. Ein neues Hemd mit Längsstreifen kaschiert vielleicht für ein paar Monate den beständig fetter werdenden Hängebauch, eine Plattensammlung hingegen ist auch für die Nachwelt bestimmt, trägt den unerschütterlichen Glauben an eine bessere Zukunft in sich, ist ein Archiv des Musik gewordenen Widerstands und eine Oase der Schönheit inmitten des wüsten Schlachtens, dieses zappelnden, piepsenden, schnatternden Fleischsalats, der sich noch immer dreist als Gesellschaft ausgibt, und muss deshalb geradezu zwangsläufig als Mission begriffen werden. Darum gilt es den Begleiter unter Einsatz des Ellenbogens -oder, etwas dezenter, der Schulter- von den wichtigsten Buchstaben fernzuhalten (man denke nur an das "L" welches nicht zuletzt den Anfang von LEATHERFACE bildet), darum ist es erlaubt diesen penetranten Gierhals mit einem Verweis auf weniger bedeutende Werke vom Wesentlichen abzulenken, nur darum darf man ihm eine Platte ausreden, die man später selbst kauft. Die Situation stellt fraglos die Gewichtung der verschiedenen Auswahlkriterien dar, die in Anbetracht des nachrückenden Gegners und der schmalen Börse, in kürzester Zeit, konsequent und fehlerlos vorgenommen werden muss. Hier können die Farbe des Vinyls oder seine Schwere, eine limitierte Auflage, das Coverartwork oder eine eventuell fehlende Textbeilage von großer Bedeutung sein. Ebenso die Frage wie häufig man das betreffende Album bereits zu vertretbaren Preisen in anderen Läden gesehen hat.

Doch gleichgültig wie groß oder besonders die Beute ausfallen mag, für die vielseitig Begeisterungsfähigen (und wir wollen uns die beiden keinesfalls als Puristen vorstellen) endet der Kampf nicht in der Punk-Ecke, sondern wird, möglicherweise mit ähnlicher Entschlossenheit, vor dem Soul-, Jazz- oder Folk-Regal so lange weitergeführt, bis jede einzelne Platte im Raum wenigstens vorläufig als "unentbehrlich", "beim nächsten Mal zu kaufen", "Durchschnitt" oder "grässlich" eingestuft worden ist.

Dann beginnt, reichlich bepackt, die Phase der Annährung an den Besitzer, die Unwissende leicht für eine plumpe Form hemmungsloser Anbiederung halten könnten, die jedoch im Grunde lediglich der Versuch ist, durch die umfassende Darlegung der eigenen Kenntnisse, aufrichtig geheucheltes Interesse und die immer wieder bekundete Liebe zur Musik, Gemeinsamkeiten zu entdecken, ja das Herz eines anderen Menschen zu erwärmen und es so ganz nebenbei zu einem Preisnachlass oder der großzügigen Vergabe sonstiger Privilegien zu bewegen. Im Zuge des letzten Ausleseprozesses, der ohne ein ausgedehntes "Reinhören" nicht zu bewältigen wäre, werden den beiden nämlich spätestens jetzt auch die üppigen Vinylstapel auffallen, die hinter der Ladentheke noch auf ihre Auszeichnung und Einsortierung warten und deren frühzeitige Sichtung einen entscheidenden Vorsprung bedeuten würde.




Ist der Besitzer zufällig ein wohlgerundeter Ex-68-er und -Kommunist, kann es dabei übrigens durchaus von Vorteil sein, sich der wilden Geschichten des eigenen Hippie-Vaters zu erinnern und einige davon zum Besten zu geben. Im kapitalistischen Alltagsstress ihrer ohnehin mageren Ideale verlustig gegangene, ehemalige Kleinrevolutionäre schwärmen oft gern von der guten alten Zeit, um sich zumindest für ein paar Minuten erneut im Glanze jener zu sonnen, die wirklich gekämpft und auf eine satte Zukunft verzichtet haben.

Erst nachdem auch die frisch eingetroffene Ware inspiziert wurde, werden die beiden schließlich, ganz friedlich und dankbar den dargereichten Tee schlürfend, tatsächlich Notiz vom übrigen Inventar nehmen, etwa von dem keinesfalls Wohlgeruch verbreitenden Gesamtschullehrer, der, seinen Erzählungen zu Folge, erstens jede Platte kauft, auf der eine Frauenstimme zu hören ist, und der zweitens ausgerechnet die Künstler-Gecken von THE FALL für die Speerspitze der Punkbewegung zu halten scheint. Da es ihr erster Besuch in diesem Laden ist, seine Arroganz ihr Mitleid noch nicht restlos vertrieben hat und er ein Stammkunde ist, werden sie ihn aber kaum offen auslachen.

Die Lps und Singles, die über und zwischen den Regalen wie Poster an fast allen Wänden hängen, sind eine Ausstellung seltener CLAPTON-Pressungen und vermutlich so schlecht wie unbezahlbar. Einen Mann, der sich Zeit seines Lebens dem Blues verschrieben und der dann trotzdem einen britischen Rassisten unterstützt hat, kann man einfach nicht mögen, darüber wird zwischen unseren beiden jungen Sammlern gewiss Einigkeit bestehen. Ansprechen werden sie diesen "Ausrutscher" des hier gewiss außerordentlich beliebten "Gitarren-Gottes" jedoch erst während eines späteren Besuchs. In gewisser Hinsicht ist die Stimmung nach einem gelungenen Plattenkauf eben doch mit jener Bierseligkeit zu vergleichen, die sich bisweilen gegen 5 Uhr früh auf einer Sowi-Party einstellt. Da wird dann glücklich und besoffen sogar ein Wirtschaftswissenschaftler umarmt und am nächsten "Morgen" schämt man sich in Grund und Boden und die Genossen lassen sich plötzlich am Telephon verleugnen...

Am Ende des Tages (mag es auch gerade 16 Uhr sein, nach einem solchen Beutezug ist der Tag zu Ende!) werden die beiden jedenfalls zu guter letzt herzlich Abschied nehmen und dem nächstgelegenen privaten Plattenspieler entgegen schlendern. Der Genuss des Hörens aber, der bei abwechselndem Auflegen stets auch durch etwas Neid getrübt wird, soll an anderer Stelle beschrieben werden. Einstweilen heißt es: God save the Vinyl! Und Hopfen und Malz sowieso.



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