Studie "Deutsche Zustände" vorgestellt

Freitag, 3. Dezember 2010 um 14:44 - futziwolf
"Rohe Bürgerlichkeit und soziale Vereisung"
Seit 2002 untersuchen Wissenschaftler in einer Langzeitstudie die Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Vorurteilen in Deutschland. Aktuell haben die Forscher die Folgen der Wirtschaftskrise unter die Lupe genommen - und dabei eine "deutliche Vereisung des sozialen Klimas", rohe Bürgerlichkeit und einen zunehmenden Klassenkampf von oben beobachtet. Die Feindbilder in einer durchweg wirtschaftlich geprägten Gesellschaft seien Muslime und "wirtschaftlich Nutzlose".  >>> tagesschau.de

In der 9. Folge des jährlichen Reportes "Deutsche Zustände" wird
unter anderem gefragt: Welche Auswirkung hat das Gefühl der Bedrohung
durch die Wirtschaftskrise auf Einstellungen zu schwachen Gruppen? Wie
steht es um die Solidarität in unserer Gesellschaft? Welche Entwicklung
zeichnet sich dabei in den höheren Einkommensgruppen ab?

Zentrales Ergebnis der Untersuchung: Angefeuert von politischen, medialen und
wissenschaftlichen Eliten sind in höheren Einkommensgruppen deutliche
Anstiege hinsichtlich abwertender, menschenfeindlicher Einstellungen
gegenüber verschiedenen schwachen Gruppen vorzufinden. Dies müsse als
eine deutliche Vereisung des sozialen Klimas interpretiert werden,
meinen die Forscher.

Die Studie "Deutsche Zustände":

Die Langzeitstudie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland untersucht mit
10-jähriger Laufzeit die Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von
Vorurteilen. Es geht um die Abwertung von Menschen aufgrund von
ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen
Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus
sozialen Gründen. Die Wissenschaftler unter der Leitung von Wilhelm
Heitmeyer vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und
Gewaltforschung in Bielefeld gehen von zehn "Vorurteilen" gegenüber
unterschiedlichen Adressatengruppen aus, welche einen gemeinsamen Kern
teilen. Dieser lasse sich als eine Ideologie der Ungleichwertigkeit
identifizieren. Das Projekt ist das weltweit das größte
Vorurteilsprojekt. Jährlich wird eine telefonische Befragung einer
repräsentativen Auswahl der deutschen Bevölkerung durchgeführt. Im
Mai/Juni 2010 wurden 2000 Personen befragt.


Kulturloses und verrohendes Bürgertum

Zudem sprechen die Wissenschaftler von einer zunehmend "rohen Bürgerlichkeit". Diese
Rohheit zeichne sich dadurch aus, dass es infolge von ökonomischen wie
gesellschaftlichen Kriseneffekten deutliche Hinweise auf eine
"entsicherte wie entkultivierte Bürgerlichkeit" gebe, die auch über
"angeblich liberale Tages- und Wochenzeitungen" verbreitet werde. Die
neue Formel des Abbaus von sozialstaatlichem Anrecht auf Unterstützung
laute: Gnade durch Wohlhabende und Selbstverantwortung der sozial Schwachen.

Die Forscher betonen, dass der gepflegte Konservatismus
abgestreift werde: Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen
in höheren Einkommensgruppen scheinen sich in unzivilisierte,
intolerante Einstellungen zu wandeln. So nimmt beispielsweise in der
höheren Einkommensgruppe (ab 2500 Euro pro Kopf;
Haushaltsnettoeinkommen, umgerechnet und gewichtet nach Anzahl der
Personen im Haushalt) die Zustimmung zu Etabliertenvorrechten und
Islamfeindlichkeit besonders deutlich zu. Da sich die zunehmende
Islamfeindlichkeit insbesondere bei höheren Einkommensgruppen zeige,
wirke Bildung in diesem Fall nicht entgegen, heißt es in der Studie weiter.

Ungeniertes Abwerten von Schwächeren

Auch die Entsolidarisierung der Besserverdienenden fällt bei den Ergebnissen
der Studie ins Auge. Wohlhabendere fühlen sich ungerecht behandelt -
obwohl es eine Umverteilung von unten nach oben gebe. "Der semantische
Klassenkampf von oben wird ungeniert offenbart", schreiben die
Wissenschaftler. Zudem werten Höherverdienende Langzeitarbeitslose
deutlich mehr ab, als Befragte in niedrigeren Einkommensgruppen dies tun.

Wer eine ökonomistische Sichtweise teilt - also Menschen nach
ihrem Nutzen beurteilt - neigt der Studie zufolge deutlich eher zur
Abwertungen schwacher Gruppen. Der Zusammenhang ist bei denen besonders
hoch, die sich selbst "oben" verorten. Insgesamt sei "eine
ökonomistische Durchdringung sozialer Verhältnisse zu registrieren".

Die Feindbilder: Muslime und "wirtschaftlich Nutzlose"

Zudem sei das Verhältnis von regierender Politik und gesellschaftlichen
Gruppen nachhaltig gestört, so die Ergebnisse der Untersuchung. Das
rechtspopulistische Potential, mit islamfeindlichen Einstellungen
verbunden und aggressiv aufgeladen, zeige dies.

Interview:

Dieses rechtspopulistische Potential sei
in allen gesellschaftlichen Gruppen vorrätig, aber die Zunahme in
höheren Einkommensgruppen sei "auffällig und gefährlich", weil die rohe
Bürgerlichkeit und ihre "Mobilisierungsexperten" in Medien die
angebliche Dekadenz dieser Gesellschaft, das angebliche Schweigen über
die Integrationsprobleme von Eingewanderten und fehlende
Leistungsbereitschaft "unten in der Gesellschaft" aggressiv beklagen.
Zur Bekämpfung dieser Dekadenz bedarf es dieser Logik zufolge
innergesellschaftlicher Feindbilder. Muslime gehören ebenso dazu wie
wirtschaftlich Nutzlose.

Beunruhigende Aussichten für eine demokratische Gesellschaft

Die Wissenschaftler betonen, rechtspopulistische Positionen versprächen
angebliche Sicherheit in unruhigen Zeiten. Dies nehme mit dem Alter zu
und sei in einer alternden Gesellschaft keine beruhigende Prognose für
die demokratische Qualität. Für den sozialen Zusammenhalt in einer
zunehmend ethnisch-kulturell heterogenen Gesellschaft seien das keine
positiven Signale.

Trackbacks

  1. Die Verrohung der Mittelschicht

    Das Bürgertum setzt seine hässlichste Fratze auf: Sozialdarwinismus, Fremdenfeindlichkeit und die Ablehnung der Demokratie"Deutsche Zustände", so heißt die von Wissenschaftlern unter Leitung des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer erstellte

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