Über den Sinn und Unsinn der "Hartz IV-Förderung"

Samstag, 15. Januar 2011 um 19:43 - futziwolf

... aus aktuellem Anlass (einige unserer Freunde sind seit einiger Zeit in den grausigen Untiefen feuchter Keller verschwunden um sinnlose Fronarbeiten zu verrichten, versehen mit blöden Antreibern, hirnrissigen Anordnungen, Demütigungen und Erniedrigungen erwachsener Menschen, würdeloser kann nichts sein als ein 1,40 Euro Job) bringen wir hier noch Mal den Artikel des SPIEGEL vom Januar 2011 über sinnlose Hartz IV-Förderungen und das Milliarden Geschäft damit:
Die Hartz-Fabrik

Das Geschäft mit der Arbeitslosigkeit brummt. Milliardenbeträge verschwinden in sinnlosen Ein-Euro-Jobs und einer monströsen Bürokratie. Die von der Bundesregierung geplante Reform wird die Probleme nicht lösen - im Gegenteil


In Bochum sitzt Tafel-Chef Baasner in seinem Ledersessel, bestellt Kaffee bei einer Mitarbeiterin und schaut hinaus auf den Vorplatz, wo seine Leute gerade einige hundert Packungen Waschmittel von einem Lastwagen laden. Die Tafel verfügt über mehrere Lagerhäuser, ein Sozialwarenhaus und eine Immobilie, in der neben der Verwaltungszentrale auch eine Nachhilfeschule und ein Fitnessraum untergebracht sind. Baasners Telefon klingelt. Bei einem Großhändler ist ein Regal umgekippt, deshalb muss sofort ein Lieferwagen los, um verbeulte Gemüsedosen abzuholen. "Wir müssen immer schneller und flexibler werden", sagt der Chef, "die Geschäftspartner verlangen das von uns."

Im Februar 2009 trafen die Berliner Behörden eine wichtige Entscheidung. Sie legten fest, dass einem alleinstehenden Hartz-IV-Empfänger eine Monatsmiete von bis zu 378 Euro grundsätzlich erstattet werden sollte. Bis dahin hatte die Grenze bei 360 Euro gelegen, also 18 Euro darunter. Die in der Stadt regierende Koalition aus SPD und Linkspartei sprach von einer sozialen Wohltat. Es wurde allgemein erwartet, dass sich die angespannte Wohnsituation der Bedürftigen bald verbessern werde.

Tatsächlich schlug die Entscheidung zügig auf die Wirklichkeit durch - doch anders als erhofft. Wie auf ein geheimes Zeichen hin stiegen die Mieten, oft um genau den Betrag, der durch die neue Erstattungsgrenze möglich geworden war.

Für die deutsche Immobilienwirtschaft ist Hartz IV eine bedeutende Bilanzposition. Es geht um mehr als eine Milliarde Euro, die die Jobcenter pünktlich zu jedem Monatsersten überweisen. Hartz-IV-Empfänger sind als Mieter sehr willkommen. "Vermieter orientieren sich immer an der Zahlungsfähigkeit", sagt Dieter Blümmel vom Eigentümerverband Haus und Grund. "Und Hartz-IV-Bezieher sind solvente Mieter, weil Jobcenter die Zahlungen übernehmen."

Im Idealfall läuft die Sache so, dass der Bedürftige eine Abtretungserklärung unterschreibt. Damit ist für den Vermieter sichergestellt, dass das Amt die Miete direkt auf sein Konto überweist. Das bedeutet maximale Einnahmesicherheit.

Ein beliebter Kniff ist, die vermietete Wohnung auf dem Papier größer zu machen, als sie in Wahrheit ist. In Hamburg soll das in mehr als hundert Fällen passiert sein, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Der Schaden für die Steuerzahler könnte allein hier in die Hunderttausende gehen.

Verlierer bei dieser Entwicklung sind Menschen, die kein Hartz IV beziehen, aber auch wenig Geld haben, etwa Studenten und Alte mit kleiner Rente. Sie können auf dem Wohnungsmarkt kaum noch mithalten. Warum sollte sich ein Hausbesitzer auch mit weniger Miete zufriedengeben, als der Staat für Hartz-IV-Empfänger zu zahlen bereit ist?

Eine vom Bundesbauministerium geförderte Studie kommt zu einem niederschmetternden Resultat: Hartz IV habe "Potentiale für Miet- und Erlössteigerungen" eröffnet, "die häufig auch genutzt werden". Die "Konkurrenzfähigkeit von Niedrigeinkommensbeziehern" gegenüber Langzeitarbeitslosen könne sich verschlechtern. Und so muss am Ende wieder der Staat einspringen, damit sich auch Geringverdiener eine Hartz-Wohnung leisten können - in Form von Wohngeld oder Hartz IV für Aufstocker.

Über der Nürnberger Südstadt residiert die Bundesagentur für Arbeit, Europas größte Behörde mit bundesweit fast 120 000 Beschäftigten; man kann sie nicht verfehlen. "Das Gebäude ist aufgrund seiner Größe (17 Stockwerke) einfach zu erkennen", heißt es in der Anfahrtsbeschreibung. Es ist eine Reise zum Ausgangspunkt der Wertschöpfungskette im Hartz-IV-System.

or einigen Monaten wurde bekannt, dass der Chef der Bundesagentur, Frank-Jürgen Weise, dem Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg helfen sollte, der Bundeswehr eine effizientere Struktur zu geben. Auf den Fluren der Behörde in Nürnberg haben sie herzlich gelacht.

Als wäre die Bundesagentur für Arbeit nicht selbst in einem reformbedürftigen Zustand. 4,4 Milliarden Euro kostete im vergangenen Jahr die Verwaltung von Hartz IV, ein Plus von 44 Prozent gegenüber 2005. Heinrich Alt, Weises Stellvertreter im Vorstand, beschrieb die internen Mängel kürzlich so: "Wir haben erhebliche Qualifikationsdefizite, die noch verschärft werden durch eine hohe Personalfluktuation."

Es gibt Jobcenter, in denen schon deshalb kaum vernünftig gearbeitet werden kann, weil bis zu 20 Prozent der Belegschaft jedes Jahr ersetzt werden müssen. Dann braucht es eine Weile, bis die neuen Mitarbeiter mit dem Computer klarkommen. Die Software ist kompliziert. Es gibt Handbücher mit Hinweisen, wie man die vielen Programmierfehler umgehen muss, damit der Computer nicht abstürzt.

Langzeitarbeitslose sind sehr teuer für den Sozialstaat, deshalb war vorgesehen, dass ihnen die Jobcenter besonders qualifizierte Helfer an die Seite stellen, sogenannte Fallmanager. Jeweils einer sollte sich um maximal 150 Betroffene kümmern, doch die Realität sieht anders aus. Es kommt vor, dass ein Betreuer für bis zu 300 Fälle zuständig ist.

Oft handelt es sich bei den Betreuern auch nicht um Fallmanager, sondern um "Persönliche Ansprechpartner", auf dem Behördenflur kurz "Paps" gerufen. Sie verfügen über keine besondere Qualifikation. Man begegnet ehemaligen Gärtnern, die mal beim städtischen Friedhofsamt gearbeitet haben, und ehemaligen Müllmännern, die nicht mehr schwer heben dürfen. Andere Vermittler stammen aus dem Überhangpool der früheren Staatsunternehmen Post und Telekom. In der Nürnberger Arbeitsagentur werden sie liebevoll "Teletubbies" genannt.

Die Betreuung ist entsprechend. Der Bundesrechnungshof bemängelte, dass Menschen, die in Hartz IV rutschen, im Durchschnitt neun Wochen auf ein "qualifizierendes Erstgespräch bei einer Vermittlungskraft" warten müssen. Bis sie etwas Schriftliches in die Hand bekommen, um etwa an einer Schulung teilnehmen zu können, vergehen 16 Wochen.

Die Regierung macht es der Arbeitslosenverwaltung aber auch schwer. Einerseits denkt sich die Politik ständig neue Gesetze und Verordnungen aus. Andererseits drückte sie sich nach einem ersten Urteil des Bundesverfassungsgerichts jahrelang vor der Entscheidung, wie es mit den Jobcentern weitergehen sollte, die gemeinsam vom Bund und von den Kommunen betrieben werden.

Wer wissen will, wie sich die Reformpläne der Bundesregierung auswirken werden, kann sich bei Stefan Sell erkundigen. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Koblenz und kann auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen. Sell war beim Arbeitsamt in Gelsenkirchen und Referent für Arbeitsmarktpolitik im Bundeskanzleramt unter Helmut Kohl, er leitete das Arbeitsamt in Tübingen und forschte für das Landesarbeitsamt Baden-Württemberg. Er ist viel zu lange dabei, um sich Illusionen zu machen.

Sell findet, dass die meisten Förderinstrumente keinen Sinn machen, weil sie mit dem wirklichen Arbeitsleben nichts zu tun haben. Es bringe nichts, Langzeitarbeitslose mit 5000-Teile-Puzzles oder Plastikgemüse ans Leben heranzuführen. Der Staat solle lieber verstärkt Lohnkostenzuschüsse an Arbeitgeber zahlen, die einen Langzeitarbeitslosen einstellen.

Es ist ein sehr weitgehender Vorschlag. Er könnte darauf hinauslaufen, dass die Unternehmen einen Teil ihrer Personalkosten auf den Staat abwälzen. Aber auch vielen Politikern ist klar, dass sie nicht einfach weitermachen können wie bisher, weshalb über den Sell-Vorschlag in der Unionsfraktion im Bundestag bereits diskutiert wird.

Vor einigen Wochen hielt Sell einen Vortrag in einem Berliner Hotel. Eingeladen hatte die "Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit", eine Art Dachverband der Hartz-IV-Industrie. Sie vertritt die Interessen der Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen, die auch für einen Gutteil der Ein-Euro-Jobs verantwortlich sind. Hinter den verschlossenen Türen des Konferenzsaals entwickelte sich unter den etwa 300 Teilnehmern eine überraschend offene Debatte. "Seien wir ehrlich", sagte Sell, "wir werfen Milliarden zum Fenster hinaus. Wir betrügen die Leute. Was wir machen, ist zum großen Teil Schrott."

Sell erntete keinen Widerspruch, im Gegenteil. Es gab kräftigen Applaus.

Spiegel vom 3.1.2011
gefunden auf: http://www.freund-hrc.de/News.108+M519aae5431b.0.html

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