KATZENBESITZER (M.v.d.P.)

Dienstag, 30. April 2024 um 09:48 - futziwolf

KATZENBESITZER
von Marc van der Poel


'Wie der Kater', dachte Beck, während er den Jungen ansah. 'Genau wie der Kater, als er aus dem Tierheim kam. Geduckt. Alles eingezogen. Ein einziges großes Auge, das hinter einer Deckung hervorschaut.'

Der Junge hatte nur einen Schlafanzug an. Er hatte die Beine ineinander verschlungen, einen Daumen im Mund und drückte sich so eng er konnte an seine Mutter, die auch nur ein Nachthemd trug. Von den vier Menschen, die in der Wohnung lebten, war niemand richtig angezogen. Über Hamburg wurde es gerade hell.
Beck sah auf seine Uhr. Vor zehn Minuten waren sie vorgefahren. Außer ihm selbst eine Kollegin von der Ausländerbehörde. Dazu sechs Angestellte eines privaten Sicherheitsdienstes und vier Polizisten, einer davon mit Hund. Drei der Polizisten überprüften nun Papiere. Der Hundeführer sicherte die Wohnungstür. Das Tier bellte unablässig und Beck fragte sich, warum der Beamte nichts dagegen tat. Die Privaten hatten sich in den wenigen Zimmern postiert, breitbeinig, Schlagstöcke und Reizgas am Gürtel.
Beck vergewisserte sich selbst noch einmal, dass sie die richtigen Leute hatten. Die Afghanin, zwei Kinder, ein Großvater. Einen Ehemann gab es nicht. Beck hatte vergessen warum. Er konnte jetzt schon sagen, dass dies einer von den besseren Einsätzen war. Alle Gesuchten waren da. Niemand hatte versucht, sich etwas anzutun. Und weil es Sonntag war, würde wahrscheinlich auch kein Richter mehr Schwierigkeiten machen.

Er hatte seine kleine Tochter daran hindern müssen, den Kater durch das Haus zu jagen.
"Du machst ihm Angst, Schatz. Er erschreckt sich vor dir."
"Ich will ihm doch gar nichts tun."
"Aber das weiß er nicht. Er kennt dich noch nicht. Und du bist so groß für ihn. Versuch dir vorzustellen, wie er dich sieht."

Beck sah, wie das Mädchen eine Nummer in ein Handy tippte. Er wollte sie gerade daran hindern, als die Mutter zu ihm kam. Der Junge, der sich immer noch an ihr festhielt stolperte hinterher. Die Frau griff nach Becks Hand.
"Missverständnis. Anwalt hat Einspruch erhoben."
Er zog den Arm weg und machte einen Schritt zurück. Er trat auf etwas Weiches, ein Stofftier, das auf dem Boden lag. Er schob es mit dem Fuß unter den Wohnzimmertisch. Dann sagte er laut:
"Okay, ich sage es jetzt einmal deutlich für alle. Wir werden nicht mit Ihnen diskutieren. Sie hatten Ihre Anhörung. Über Ihren Fall ist entschieden. Wir haben einen gültigen Abschiebebefehl für Sie. Sie packen jetzt Ihre Sachen. Zwanzig Kilo pro Person. Jeder bekommt von uns eine Plastiktasche. Was da rein geht dürfen Sie mitnehmen. Der Rest bleibt hier."
Die Frau ließ sich nicht beirren.
"Tochter erklärt. Tochter besser deutsch. Lotfia!"
Sie zog das Mädchen herbei, das nun mit jemandem telefonierte. Sie hatten einen kurzen Wortwechsel auf Afghanisch. Dann sprach das Mädchen wieder in das Handy. Schließlich hielt sie es Beck hin. Ihre Zähne klapperten vor Aufregung so sehr, dass er sie kaum verstand.
"Mein Lehrer. Er will mit Ihnen sprechen."
Beck nahm das Handy. Für einen Moment betrachtete es das Display, dass blau in seiner Hand schimmerte. Dann klappte er es zu und steckte es ein.
"Es gibt nichts zu besprechen. Und telefoniert wird jetzt auch nicht mehr."
"Er will ihnen doch nur unsere Situation erklären."
"Und ich will es mir nicht anhören."
"Unser Anwalt hat gegen den Bescheid Einspruch erhoben. Wir sind ein Härtefall."
"Mir liegt nichts vor."
"Es gibt so viele Gründe dagegen. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wir haben überhaupt nichts in Afghanistan. Mein Großvater ist krank. Und ich will meinen Abschluss machen."
"Das geht alles von Ihrer Zeit ab. Wir nehmen Sie auch mit, wenn Sie nicht packen."
Das Mädchen sah ihn an. Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie sagte:
"Warum gehen Sie nicht einfach weg!"
Dann lief sie in ihr Zimmer. Ihre Mutter nahm den Jungen auf den Arm und folgte ihr.
Beck nickte seiner Kollegin zu.
"Sieh zu, dass sie sich fertig machen."

"Ich möchte aber mit dem Kater spielen."
"Ich weiß, meine Kleine. Aber der Kater ist kein Spielzeug. Wir müssen ihm Zeit geben."
"Wie lange?"
"So lange, wie er braucht. Siehst du, wie er sich alles ganz genau ansieht? Er muss es erst in seinem kleinen Katerköpfchen abspeichern. Es ist noch alles fremd für ihn."
"Und wann ist es nicht mehr fremd?"
"Wenn er sich an alles gewöhnt hat. Dann gehört er zu uns. Dann wird er auch mit dir spielen."
"Und wenn er nicht will?"
"Er will bestimmt. Ein bisschen muss er schließlich auch für sein Futter tun."
"Warum?"
"Dass muss jeder. Für sein Futter arbeiten."
"Du auch?"
"Ich auch. Das weißt du doch."
"Wenn du nicht arbeitest, haben wir dann nichts mehr zu essen?"
"Wenn Papa nicht mehr arbeitet, nicht. Dann haben wir bald gar nichts mehr."
"Warum?"
"Weil das so ist."

Der Großvater saß noch im Wohnzimmer in einem Sessel. Einer der privaten Mitarbeiter fasste ihn am Ärmel.
"Packen. Jetzt."
Der Alte fragte:
"Today to Afghanistan?"
"Ja," sagte der Private. "Fuhlsbüttel - Kabul. Alles schon gebucht. Inklusive Vollpension im Aufnahmelager."
Jemand lachte.
Der Alte verstand nicht. Er sah so verwirrt aus, dass Beck ihm spontan zulächeln wollte. Es gelang ihm nicht. Der Mann ballte eine Faust und schüttelte sie. Dann stand er auf und ging aus dem Zimmer. Der Private sagte zu Beck:
"Hat doch keinen Zweck. Die behandeln uns so oder so, als wären wir die verdammte Gestapo. Dabei machen wir auch nur unseren Job."

"Schaffen Sie sich ein Haustier an," hatte der Dozent ihm geraten. In der Leiterfortbildung, Modul Stressbewältigung. "Tiere sind gut für das Gemüt. Als Ausgleich. Und vor allem, lernen Sie bei der Arbeit aktiv zu selektieren! Lernen Sie, komplexe Verhältnisse so zu vereinfachen, dass Sie konkrete Entscheidungen treffen können. Sonst reiben Sie sich auf."
Das war das Geheimnis.
Komplexe Verhältnisse vereinfachen.
Das konnte er.
Vielleicht konnte er sogar irgendwann dazu lächeln.
Wie der Bayer.
Der Bayer war in Afghanistan gewesen.
Hatte sich alles zeigen lassen.
Es lächelnd auf zwei Alternativen reduziert:
"Entweder ihr geht selbst oder wir bringen euch."
Der Bayer hatte bestimmt auch Katzen.

Eine halbe Stunde später war die Wohnung geräumt. Beck ging noch einmal allein durch die Zimmer. Die Schränke waren aufgerissen. Kleidung und Hausrat lagen überall verstreut. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein vergessener Schuhkarton, verziert mit Aufklebern von Stars, die Beck nicht kannte. Er hob den Deckel an. Der Karton war voller bunter Haarspangen. Unter dem Tisch lag noch das Stofftier, auf das er getreten war. Er ging in die Knie, zog es hervor und setzte es neben den Karton. Es war der Löwe Goleo, das Maskottchen der vergangenen Fußball-Weltmeisterschaft. Er trug ein Trikot der Nationalmannschaft, auf dem in schwarz-rot-goldenen Buchstaben stand: "Danke Deutschland!"
Beck stand auf und ging zur Tür. Er warf noch einen letzten Blick auf den Löwen, dann schaltete er das Licht aus und ging hinaus. Er schloss die Wohnungstür und klebte ein Siegel über Tür und Rahmen. Er prüfte es. Eine Luftblase war darunter eingeschlossen und sah aus, als wolle sie das Tor in dem hamburger Wappen aufsprengen. Beck strich mit dem Daumen darüber und glättete die Oberfläche. Dann stieg er die Treppe hinab. Auf der Straße wartete seine Kollegin. Gemeinsam gingen sie zu ihrem Wagen. Sie fragte:
"Bleibt es eigentlich bei morgen Abend? Bei euch?"
Diesmal gelang ihm das Lächeln.
"Ja. Die Kleine freut sich schon auf dich. Dann lernst du auch mal unseren neuen Kater kennen. Du glaubst gar nicht, wie frech der geworden ist."


Autor:
Marc van der Poel
kontakt@vanderpoel.de
http://www.vanderpoel.de

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