EXTREME NOISE TERROR: A Holocaust In Your Head + Phonophobia

Freitag, 25. März 2011 um 20:49 - futziwolf
EXTREME NOISE TERROR:
"A Holocaust In Your Head" LP / "Phonophobia"
LP
LP  - (Farewell/ Punkdistro)


LABEL:
Farewell Records
vertrieb: Punkdistro



[review:]
Bereits zu Beginn der 80-er Jahre war in Großbritannien eine ganze Reihe von Platten erschienen, die sich in punkto Härte deutlich von der ersten und zweiten Punk-Welle absetzten und mit dem teils bunten, teils düsteren New Wave-Spektakel, das Ende der 70-er in die Szene Einzug gehalten hatte, außer den Wurzeln nicht mehr viel gemein hatten. Bands wie G.B.H., DISCHARGE, DISORDER oder THE EXPLOITED kreierten einen verhältnismäßig stumpf nach vorne preschenden Hardcore-Punk, der oft nicht viel langsamer, aber insgesamt deutlich weniger verspielt war, als das was die Genossen jenseits des Atlantiks zu dieser Zeit erprobten. Farbenfroh blieben hier höchstens die Haare, während die stacheligen Frisuren, die Nieten-bestückten, schweren Lederjacken, die Army-Stiefel, Ranger-Boots und Militärhosen die musikalische Aggression und textliche Endzeitstimmung hervorragend optisch ergänzten und bis heute gültige Maßstäbe für das vorschriftsmäßige Punker-Outfit setzten.

Trotz der immer wieder formulierten Kampfbereitschaft und dem Bewusstsein, dass eine fundamentale, (allerdings selten näher beschriebene) Veränderung zu erfolgen hatte, wenn die von Kriegen und Hungersnöten gebeutelte und bedrohte Welt nicht endgültig den Bach runtergehen sollte, dominierte ein pessimistisches Schwarz, war die Gesellschaft, und somit auch der Normalbürger, das feindliche Gegenüber mit dem man nichts zu tun haben wollte. Die Leichtigkeit und den Humor vieler amerikanischer Bands, die ihre berechtigte Sozialkritik und ihre politischen wie ihre nihilistischen Inhalte nicht selten mit bösem Witz unter die Leute brachten (und auch unpolitischen Späßen nicht unbedingt abgeneigt waren), sucht man hier weitestgehend vergeblich. Bitterer Ernst regierte und dass diese Bands und ihre Anhängerschaft weder aus Trauerklößen noch aus unablässig gegen das System streitenden Aktivisten bestanden, sondern im Gegenteil wohl recht häufig ihre Art alkoholgetränkter Lebensfreude zelebrierten, ließ sich am ehesten an der einen oder anderen, meist einigermaßen prolligen Saufnummer erkennen. So standen z. B. THE EXPLOITED nicht nur durch ihre Texte über das traurige Schicksal der „Working Class“ der Oi-Szene sehr nahe und erfreuten sich stets auch in Skinhead-Kreisen großer Beliebtheit. Die VARUKERS begaben sich durch ihre Labelwahl („Punkcore“) später vorübergehend in ein ähnliches Umfeld und auch die Samplerreihe „Punk and Disorderly“ stellte schließlich konsequent Bands beider Spielarten nebeneinander. Schimmerte bei den jungen, schnellen und im Grunde nicht weniger aggressiven Amis vielfach noch ein gutes Stück Highschool- und College-Leben und –Bildung durch, ließen diese Briten hauptsächlich an die trostlosen, vermüllten Straßen ehemaliger Arbeiterviertel denken. Hier wurde nicht geskatet (von Ausnahmen wie den etwas später auf der Bildfläche erscheinenden STUPIDS mal abgesehen), hier hatte man kein Geld für den Scheiss-Bus! Dass es auch in den USA schnell eine Szene stacheliger Hardcore-Punx gab, denen, zumindest auf ihren Platten, ebenfalls nicht zum Scherzen zu Mute war, soll hier natürlich dennoch nicht geleugnet werden, s. z. B. CRUCEFIX

Mitte bis Ende der 80-er tauchte dann eine neue Riege von Bands auf, die den britischen Hardcore weiterentwickeln sollte. Die ELECTRO HIPPIES, DOOM, EXTREME NOISE TERROR und NAPALM DEATH, anfänglich als Brit-Core bezeichnet, brachten auch neue Begriffe in´s Gespräch. Crust und Grindcore wurden mittelfristig zu eigenen Genres, deren Grenzen allerdings mindestens so fließend waren, wie die zwischen Punk und Hardcore.



„A Holocaust in your Head“ erschien 1987, als erste Full-length-Veröffentlichung von E.N.T., die zuvor bereits eine Split-LP mit CHAOS U.K. herausgebracht hatten. Was die Band nun musikalisch bot, unterschied sich in seinem Grundgerüst noch kaum von dem was THE EXPLOITED vier Jahre früher auf ihrem „Let´s start a war“-Album runtergeprügelt hatten und doch war offensichtlich, dass hier nicht mehr kopiert, sondern bereits verwertet und neu gestaltet wurde. War der Sound von Wattie und seinen Kollegen noch ein relativ differenzierter, so verschwanden die einzelnen Instrumente nun langsam in einem wütenden, noch schnelleren Lärmen. Die Stimmen hatten nicht länger die Aufgabe über der Musik thronend in einigermaßen verständlicher Weise die Sontexte an den Hörer zu bringen. Der Wechselgesang von Phil Vane und Dean Jones, der tiefes Grunzen auf ein deutlich höheres, bisweilen schon in ein Kreischen kippendes Geschrei folgen ließ (und umgekehrt) war vor allem Geräusch. Ohne die Textbeilage zur Platte hätte wohl niemand zu sagen vermocht, was die beiden da eigentlich in ihre Mikros brüllen. Härtere, brachialere Musik gab es zu dieser Zeit nicht und die lieb gewonnen Hörgewohnheiten des Publikums wurden hier in einer Weise attackiert, die sogar einen JOHN ZORN aufhorchen ließ. Wenn das Kultivierte und das Schöne, wenn Harmonien und Melodien (auf die ja auch die älteren Punx nicht verzichten wollten), kein Mittel gegen den jederzeit möglichen Rückfall in die totale Barbarei waren, so sollte all das nun zertrümmert und der scheinbar ungezügelte Ausbruch ausprobiert werden. Kein wohliges Erschauern, kein sanftes Versinken im Gesamtkunstwerk oder Song. Der nackte rohe Mensch entzieht sich schreiend, röchelnd und kotzend der Konsumierbarkeit und dem schmerzfreien Genuss (oder versucht es wenigstens).

EXTREME NOISE TERROR und ihre oben genannten Freunde standen damit an der Spitze einer Entwicklung, deren baldiges Ende sich jedoch, wenigstens die Gitarrenmusik betreffend, bereits abzeichnete und hunderte von Epigonen, mögen sie für sich genommen auch durchaus nette oder sogar gute Platten veröffentlichen,  beweisen bis heute, dass sich weder das Tempo endlos steigern, noch der Sound beliebig verdichten lässt. Martin Büsser hat in seinem Essay „If the kids are united“ in diesem Zusammenhang auf ein gemeinsames Projekt von NAPALM DEATH und den ELECTRO HIPPIES hingewiesen, eine 7“, auf der kein „Song“ länger dauert als eine Sekunde, und darin ein Begräbnis des Punk gesehen. Soweit sich Punk über das ständige Erhöhen der Geschwindigkeit und die Erzeugung des ultimativen Lärms definiert hat, kann man ihm wohl kaum widersprechen. Der perfekte Krach löst sich auf im Tosen der Stille. Hinzu kommt, dass sich Hörgewohnheiten eben ändern und es tatsächlich nicht lange gedauert hat bis eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen auch E.N.T. als Party- und Freizeitsoundtrack betrachtet hat. „Oh wie geil, die sind ja so schweinehart…“



Freilich war „A Holocaust in your Head“ letztlich ebenso wenig eine konsequente Dekonstruktion wie ein bloßes (musikalisches) Spiegelbild einer furchtbar hektischen, hoch technisierten und doch längst im Zerfall begriffenen Gesellschaft, deren Ströme von immer schneller wechselnden Informationen und Bildern letztlich zu einem zähen Brei zusammenlaufen und den Menschen in seinem kleiner werdenden Raum zu ersticken drohen. Die Platte war auch nicht die pure Verzweiflung und die Wut von E.N.T. war nicht ziellos oder unreflektiert. Gleich das erste Stück ist eine politische Stellungnahme und passenderweise mit „Statement“ überschrieben. Es ist zwar mit Musik unterlegt, wird aber gesprochen und zwar so, dass der antirassistische Text vom Hörer leicht verstanden werden kann. Es schließt mit „So let´s discard our systematically imposed conditioning of hate and ignorance --- and learn respect.”  Offenbar begriffen diese, zum Teil by the way langhaarigen, Engländer ihre Musik tatsächlich als ein Mittel die Dinge zu ändern oder zumindest die dafür nötige Aufklärung zu betreiben. Die folgenden Texte sind dann aber meist wesentlich kürzer und erinnern gelegentlich an die knappen Zustandbeschreibungen, Zukunftsvisionen und Wertungen von DISCHARGE, so wenn das Thema Krieg bearbeitet wird („as the sky turns black/ in this man made linving hell/ radiation war/ screams from the unborn child“) oder aus „free speach fort he dumb“ „your so called free speech is nothing but a lie.“ wird, nur das es bei E.N.T. eben für gewöhnlich noch ein paar Zeilen mehr sind, die einen Text ergeben. Es geht um das Individuum, die Lügen und die gesellschaftlichen Zwänge und Repressionen, denen es ausgesetzt ist und immer wieder wird Aktivität eingefordert. „Together we can bring about a change“ und „Try to see through their shit and all their lies, try to break away from their eternal lies”. Probleme wie der Hunger der Dritten Welt, Polizeigewalt und Armut werden benannt, wobei das Spektrum um sexualisierte Gewalt und Massentierhaltung (bzw. Tierrechte) erweitert wird und dennoch bleibt die Systemfrage insoweit außen vor als hier keine Alternative aufgezeigt wird. Vielleicht war es in dieser Zeit und in der Szene, aus der die Band kam, nicht nötig konkreter zu werden, weil es einen gemeinsamen anarchistischen Background gab. Bloß wenn man nicht vor hatte auch unkundige Hörer zu erreichen, dann war all das eben doch nichts anderes als ein nutzloses preaching to the converted. Und wenn man es vorhatte, dann hätte man Textblatt und Cover nun mal auch für die entsprechenden Fakten und Literaturhinweise nutzen müssen, um etwas zu erreichen. Vermutlich wäre das sogar im Hinblick auf die eigene Szene gar nicht verkehrt gewesen, wenn man berücksichtigt wie vollkommen unpolitisch in der Folge viele Crust- und Grind-Bands gegen imaginäre oder tatsächliche Kriege gebrüllt und gegrunzt haben.

Nichtsdestotrotz bleibt diese Platte ohne Zweifel ein musikalisch beeindruckendes, außerordentlich kräftiges „Nein“ zu den bestehenden Verhältnissen und ihr (leider limitiertes) Re-Release war längst überfällig. Wie fast alle Scheiben, die auf Farewell erscheinen, gibt es übrigens auch diese hier in farbigem und schwarzem Vinyl und darüber hinaus existiert noch eine kleine Auflage von Siebdruck-Covern. Und bevor ich das vergesse: Hier handelt es sich um die schon lange nicht mehr erhältlichen, nun remasterten Originalaufnahmen, nicht um die Anfang der 90-er Jahre neu eingespielte und insgesamt etwas kraftlosere Fassung. Also beeilt Euch, Ihr Plattensammler dieser Welt.

Bezüglich der „Phonophobia“-LP von 1991 kann ich mich kürzer fassen. Für mich ist die zweite auch die vorläufig letzte Platte von E.N.T., die ich mein Eigen nennen muss. Die Produktion ist satt und fett und die zehn Songs sind ein schnelles, mitreißendes Vergnügen, aber man sieht auch wie kurz der Weg von der Verstörung zur Institutionalisierung ist. „Phonophobia“ rockt schon mehr, als das sie zertrümmert und die Entwicklung hin zum Metal deutet sich bereits an. Sie ist eine Platte, die man auch in sehr unterschiedlichen Stimmungen gern auflegt, die nicht unangenehm auffällt, und entspricht damit eigentlich schon nicht mehr dem wofür EXTREME NOISE TERROR zunächst standen. Aber versteht mich nicht falsch: Ich mag Popmusik und ich mag „Phonophobia“ sehr. Die immer noch kurzen Texte sind, obgleich sie zum Teil dieselben Themen behandeln, keineswegs schlechter als auf „A Holocaust in your Head“ und ich möchte hier gleich sogar mit einem schließen, der mir besonders gefallen hat.

Zuvor aber noch der obligatorische Hinweis auf die auch hier existierende farbige Pressung, die beiden bisher unveröffentlichten Bonustracks, die schön crustige Siebdruckauflage und den Punkdistro-Mailorder, der gerade für limitiertes Vinyl aus den Bereichen Crust, Grind, Sludge und Hardore stets eine erstklassige Adresse ist...  - ATAKEKS

„What do you care? Systems, animal slaughter, war, religion, aaarghhhhhh. How many albums does it take? What do you care anyway?”


Presse:
>>>  <<<

mukke/video:


YouTube-Direktlink


artist website:
http://www.earache.com/bands/ent/ent.html
http://www.myspace.com/extremenoiseterrorx

konzerte:
08.04.2011 - Boston Arms - Camden Town, UNITED KINGDOM

EXTREME NOISE TERROR sind:
    Dean Jones (vocals, 1985–present)
   
Chino (guitar, 2010-present)
    Ollie Jones (guitar, 2002-present)
   
Stafford Glover (bass, 2001-present)
    Zac O'Neil (drums, 1997–2007, 2010-present)
Ali Firouzbakht (Al Todd) (guitar, 1995–2005)
Spit (vocals, 1989)
Phil Vane (vocals, 1985–1996, 1997-1999, 2006–2011) (deceased)

discographie:
   
Radioactive Earslaughter split LP with Chaos UK (Manic Ears, 1986)
    The Peel Session 12" MLP (Strange Fruit, 1987)
   
A Holocaust in Your Head LP (Head Eruption, 1988)
    Are You That Desperate live EP (Crust, 1989)
   
In It For Life split LP with Filthkick (Sink Below, 1989)
    The Peel Sessions '87-'90 CD/LP (Strange Fruit, 1990)
   
ENT vs. KLF 7" single (KLF Communications, 1991)
    The Split Noiz live EP, split with Patareni (bootleg;[20] FalSanja Kol'ko'S / Debilana Sound, 1990)
   
Live and Loud live CD (unknown label, 1990)
    Phonophobia CD/LP (Discipline / Vinyl Japan, 1991)
   
Retro-bution CD/LP (Earache, 1995)
    Damage 381 CD (Earache, 1997)
   
Being and Nothing CD (Candlelight, 2001)
    Live at the Fulham Greyhound London 1989 live CD (Cherry Red, 2002)
   
From One Extreme to Another DVD (Candlelight, 2003)
    Hatred and the Filth 7" EP (Distortion, 2004)
   
Split CD/10" EP with Driller Killer (Osmose, 2006)
    Back to the Roots Digital download compilation (Moshpit Tragedy, 2008)
   
Split 7" EP with Trap Them (Deathwish Inc., 2008)
    Law of Retaliation CD/LP (Osmose, MCR Company, Deep Six, 2009)
   
Split 5" EP with Cock ESP (Little Mafia, 2009)
    * Hardcore Attack Of The Low Life Dogs split 7" EP with Slang (Farewell Records, 2010)

labelinfo:
"Holocaust In Your Head":
Offizielle auf 500 Stück limitierte Nachpressung der "Holocaust In Your Head" LP, welche ursprünglich 1988 auf "Head Erruption" erschienen ist. 1991 wurde die Scheibe noch mal komplett neu aufgenommen und erschien im gleichen Jahr auf dem japanischen "Toy´s Factory" Label. 1999 veröffentlichten dann "Distortion Records" die Scheibe noch mal als Vinylversion, konzentrierten sich dabei aber auf die Zweitfassung. Auf der jetzt veröffentlichten LP ist die Originalaufnahme von 1988 zu hören, welche neu gemastert wurde und nun einen wesentlich raueren und brutaleren Sound hat. Inklusive der Klassiker "Murder", "Bullshit Propaganda", "Another Nail In The Coffin", "Deceived"...

"Phonophobia":
Offizielle Nachpressung des Klassikers von 1991! Zu Extreme Noise Terror muss nicht viel gesagt werden! E.N.T. wurde im Januar 1985 in Ipswich gegründet und entwickelte sich bald zu einer einflussreichen Crustcore-Band. Ihr erstes Album veröffentlichten sie 1986 unter dem Titel "Radioactive Earslaughter", welches als Split-LP mit der englischen Punkband Chaos UK heraus kam. Gleich im folgenden Jahr erweiterten sie ihren Bekanntheitsgrad durch die Hilfe des legendären britischen Radio-DJs John Peel. Dieser ermöglichte ihnen insgesamt 3 Sessions bei Radio 1, welche durch die BBC veröffentlicht wurden. Später gehörten sie, zusammen vor allem mit Napalm Death, zu den Pionieren des Grindcore. "Phonophobia" wurde 1991 im legendären "Southern Studio" in London aufgenommen, wo u.a. auch Crass, Flux Of Pink Indians, Antisect und Rudimentary Peni aufgenommen haben! Die remasterte Nachpressung von "Phonophobia" beinhaltet 2 unveröffentlichte Stücke (!), welche auch schon 1991 aufgenommen, aber damals nicht mit auf die LP gepackt wurden! Ltd. auf 1250 Stück!


Trackbacks

    Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: (Linear | Verschachtelt)

    Noch keine Kommentare


Kommentar schreiben


Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.
Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

BBCode-Formatierung erlaubt