3 neue short stories von Rüdiger Saß

Mittwoch, 16. März 2016 um 20:06 - futziwolf

Schriftschnitten
Fernsehwelten
Shit happens



Da es scheint, dass jedes Herz,
Das für die Freiheit schlägt,
Nur Anrecht auf ein Stückchen Blei besitzt,
So fordere ich meinen Teil!
(Louise Michel)

Schriftschnitten
Aufatmen! Mein Nachbar hat sich ausgestunken, mein Nachbar ist tot. Der Dreck scherte ihn einen Dreck, Eau de Doppelkorn, Eau de Clochard ... Nachbar Fäkalio sprach zu seiner Fäkalia: „Es ist so schön mit dir.“ Und da zog sich auch schon die Krawatte um seinen Hals so sehr zu, dass ihm Hören, Sehen und etwas später das Stinken verging.
Meine Nachbarn lachen nicht, sie lachen nie, sie sind Deutsche. Ihr Humor ist Verkleidung, ist Kostüm: Narrenkappe, Pappnase, Karnevalskostüm ... Die Deutschen sind murrende, meckernde Ameisen, Bienen, die sich nicht vorstellen können und wollen, weder Ameisen noch Bienen zu sein, kettenreaktionäre Sklavennaturen, zu jedem Völkermord bereit, zu jedem Vernichtungskrieg ... Führer befiehl, sie folgen dir! Sie und sich entblöden? Niemals! Sie prahlen mit ihren Krankheiten und Gebrechen wie mit Tapferkeitsmedaillen, Nahkampfspangen … Wenn Hirntote sich Gedanken machen … Zu meinen Nachbarn fällt mir nur Adolf Hitler ein. „Mein Kampf“ ist das wütende, ängstlich aggressive Gebell einer Promenadenmischung, der man auf den Schwanz getreten ist. So, ganz so sind meine Nachbarn, eine Ansammlung Unförmiger, spießig bis in die Haarspitzen, hirn- und herzverhärtete Halbschönheiten, aus allen Formen fahrende Wachkomapatienten, deren schwarzweiße Weltbilder und wohlfeile Vorurteile wie Nackenschläge wirken, deren Niedertracht wie Tritte in Unterleib und Magengrube der Zivilisation, deren Interesse- und Teilnahmslosigkeit ein Ticket für den Weltuntergang …

Der Winter, ein hungriger Wolf, hat sich fest in die Erde verbissen; er lässt und lässt nicht locker. Gut zu wissen, dass mir meine Heizkörper nicht davonlaufen können, denn Heizkörper haben keine Beine. Ich, ich will nicht, will nicht krank, nicht sein …
Die Nacht wirft ihre Netze aus. Die Nacht frisst den Tag mit Haut und Haaren, mit allen seinen Farben … zuerst bicyclettieren, dann mit Alkohol, dem Halt für Haltlose, experimentieren, mit Rasierwasser, brennend wie Granatsplitter, in der Bucht des blauen Dunstes … Lächelnde, wie Lagerfeuer flackernde Lampen … Das Möwengeschrei korrespondiert mit meinen Hörgeräuschen … Das Ergebnis des Alkoholexperiments: Erinnerungslücken wie Erdbebenspalten. Doch ist das kein Grund zur Beunruhigung, denn was sind Erinnerungen anderes  als Luxusgüter Satter? Apropos: Die Angst der Satten, Überfressenen, der Gelangweilten: vor Armut, vor Fremdem und Fremden, vor jeglicher Veränderung …
Die Hirndrüse melken: Offene Fragen stehen im Raum wie offene Türen; und schon stehe ich im Zug, im Zugzwang. Nein, das Klo bleibt so, wie es ist, ein verlottertes, verwahrlostes Kind, ohne Zuspruch, ohne aufmunternde Worte … Was ist Reformstau? Ein voller Aschenbecher … eine Spüle, die unter schmutzigem Geschirr erstickt …
Ein Haken steckt und schmerzt in meiner Vorstellung wie im Maul eines Fisches: Ich sollte meine Schatten in ferne, fremde Länder werfen … ich sollte reisen, verreisen, wenn es mir meine Bank nicht verbieten würde … Eigentum ist Macht, ist Herrschaft … Eine glatte Lüge wie ein glatter Durchschuss …
Alle Maschinen, die größer als ein Fön sind, flößen mir Angst und Respekt ein … Dazu gehören auch Züge, Schiffe, Flugzeuge … Um fliegen zu können, brauche ich kein Flugzeug, um vorwärts zu kommen kein Zug, kein Schiff, kein Automobil … Staumeldungen im Radio, auf allen Kanälen, zu jeder Tag- und Nachtzeit, Staus, wohin man sich auch wendet, Staus zu Lande, zu Wasser und in der Luft …

Im Fernsehen ein Schokoladenfabrikant in Generalsuniform, aufgeblasen wie ein Luftballon, nadelgestreifte Ignoranz, Wechselgewänder … Ich sehe nicht, was der Fabrikant, auf dem Bauch liegend, zu sehen versucht …
Die Sonne eine explodierende Motte, die Welt ein erfrorener Furz, die Meere Kloaken, die Städte versteinerte Saurierskelette, die Häuser Ameisenhaufen, steinerne Bienenstöcke, die Bäume Zellstofflieferanten, die Straßen Asphaltadern, die Wälder Möbelhauslager, Mülldeponien … Felder und Wiesen Schnitzel-, Steak- und Brotbrutkästen … Auen der Ausbeutung … Willkommen im Termitenstaat! Die Armen sind Ratten, und die Reichen ihre Reiter, Rattenreiter. Sobald letztere mit dem Finger schnippen, strömen erstere von überall her zusammen … Ehesklaven in Wagenkolonnen, den Sinn stadtauswärts gerichtet, auf dem Weg in die Vororte, aufs Land, zu Schwiegereltern, zu Forsten, Wanderwegen und Aussichtsplattformen …

Laue, lauwarme Literatursuppe, Bierdeckelpoesie, Literatur für Nichtleser, für Analphabeten: Baukräne beherrschen die Silhouette der Stadt … Ich sehe mich in wogenden, aufgepeitschten Menschenmassen versinken und ertrinken … und wenn ich verschwände, würde es niemandem auffallen, und falls doch, würde es niemandem interessieren … das Leben ein enger, muffiger Warteraum für Todgeweihte … und die kalten Füße heb` ich mir für später auf.

Nachschlag: Mein Nachbar, das bin ich!

 


Fernsehwelten
Schattenwerfer, sogenannte Experten, wichtig, gewichtig, nebeneinander, zurückgelehnt, in sich und in den Stuhlpolstern eines Studios, eines Fernsehstudios, ruhend, die Beine übereinandergeschlagen, die Fingerspitzen aneinandergelegt, die Stirn in Falten. So kennen, so schätzen, ja, so lieben wir sie, so sind wir es gewohnt: diesmal sind es berufene und unberufene Terrorismusexperten, lange, dunkle Schatten werfend …

Szenenwechsel: Eines Staates schwarzer Block vor grausgrauer Großstadtkulisse, am Rand einer Metropole, einem Tourismusmagneten, verbeamtete Killer mit geschlossenem Visier und gezogenen schwarzen, scharfen Waffen, Präzisionsgewehre im Anschlag, zu allem bereit, allzu bereit, ins Schwarze zu treffen … Des Staates schwarzer Block in voller Deckung, am Metropolenrand, hinter herumlungernden Mülleimern, hinter gestutzten, stutzenden Hecken, versteckt in der Großstadtwildnis: hinter grausgrauen Mauervorsprüngen, Leitplanken, Pollern, Betonpfeilern, hinter wild gewordenen, zerzausten Zierbüschen … Des schwarzen Blockes Beute verschanzt im Erdgeschoss eines Hauses im Hintergrund; in irgendeinem Haus einer Häuserzeile im Bildhintergrund, heruntergekommene, vollgepinkelte Fassaden, trauernde Tristesse. Die Beute, gehetztes, desorientiertes Großstadtwild, hat Geiseln genommen, im Erdgeschoss, einem Supermarkt, ein, zwei, drei, ganz viele Geiseln … Die Fernsehgemeinde hält Atem und Blase an … und sucht, sie sucht das richtige Haus, das richtige Erdgeschoss, den Supermarkt … die Fernsehgemeinde, in sicherer Entfernung, in zweiter Reihe sitzend, leistet Polizeiarbeit. Sie rätselt, wie der schwarze Block vor ihnen, wie es weitergeht … Das Böse ist umstellt, das Böse mitsamt seiner Agenten sitzt in der Falle … „Achtung, Achtung, hier spricht des Staates schwarzer, äh die Polizei. Das Haus, welches auch immer, ist umstellt. Widerstand ist zwecklos. Kommen Sie unbewaffnet und mit erhobenen Händen heraus! Sonst kommen wir, bewaffnet, den Finger am Abzug, hinein.“ Die Welt, die Bildschirmwelt scheint stillzustehen, Atem und Blase anhaltend … doch plötzlich gehen die Nerven durch, es fallen und hallen Schüsse, der Tod lässt sich herab und verdüstert, verschleiert, verhängt die Szene, die Kamera, das Bild wackelt, der Kameramann geht in Deckung, eine Sekunde, zwei Sekunden, dann wenden sich er und seine Kamera wieder der Häuserzeile zu, dann tun sie wieder ihre Arbeit, ihre Pflicht … des Staates schwarzer Block greift ein, greift an und zu … Zugriff des Staatsadlers, die Schwingen des Todes fächeln der nachmittäglichen Fernsehgemeinde Luft zu, die Luft zum Atmen, schwüle Schwaden in den Wohnzimmern der Gelangweilten, der Siechen, der Alten und Arbeitslosen, all jene, die zu dieser Zeit, der Hochzeit des Arbeitstages, nichts anderes zu tun haben als in die Röhre zu schauen - Der riesige Rest der Öffentlichkeit ist auf die zeitversetzte Zusammenfassung in den Abendnachrichten angewiesen, auf kunstvoll zusammengeschnittene Höhepunkte ohne endlose, aber endlos spannende Standbilder grausgrauer Großstadtlandschaften … Des schwarzen Blockes Beute geht der lange Atem aus, der Beute und ihren Schutzschilden, den Geiseln, des Staates schwarzer Block, dem nichts anderes obliegt als die gestörte gottgewollte Ordnung um jeden Preis  wiederherzustellen, der schwarze Block, der große Bruder hat alle Zeit und Übermacht der Welt, er hat den Überblick, das Hinterland, die Etappe, die Unterstützung aller, fast aller, nur er entscheidet, ob und wann etwas passiert, sein Ziel, die Ordnung, seine Ordnung, fest im Blick …

Die Würfel sind gefallen, der schwarze Block geht vor, geht zum Angriff vor, mit Schnelligkeit, mit einem Konzert seiner Präzisionsgewehre, mit Blendgranaten … Der Block breitet die Schwingen über seine Beute aus, so dass sie zum einen nicht entkommen und zum andern vom Fernsehvolk nicht gesehen werden kann, Betriebsgeheimnis … Das Fernsehvolk sieht nichts als zuvor: die Häuserzeile in irgendeiner Großstadtwildnis, am Rand einer Metropole, eines Tourismusmagneten, das Volk sieht sich in sicherer Entfernung. Die Welt, die Bildschirmwelt scheint stillzustehen, Atem und Blase anhaltend … Doch die Zeit läuft mit, die Zeit läuft ab, am rechten oberen Bildschirmrand, mit Sekunden und Minuten, zu Stunden aufgeschichtet, in Kartons verpackt, in Containern verstaut … Die Zeit scheint abgelaufen, für den Augenblick, für diesen Moment, für den Block, seine Beute, dessen Geiseln, für das Fernsehvolk, die Zeit steht still, der schwarze Block ist fort, ausgeflogen, zurück bleiben ratlose Mülleimer in irgendeiner grausgrauen Großstadtkulisse, immergrüne, asthmatische Zierbüsche und Krüppelhecken ... Plötzlich unterbricht eine Stimme, eine Reporterstimme die gespannte Stille: vier Tote, drei Geiseln und der Geiselnehmer.

Szenenwechsel: Schattenwerfer, sogenannte Experten, wichtig, gewichtig, nebeneinander, zurückgelehnt, in sich und in den Stuhlpolstern eines Studios, eines Fernsehstudios, ruhend, die Beine übereinandergeschlagen, die Fingerspitzen aneinandergelegt, die Stirn in Falten. So kennen, so schätzen, ja, so lieben wir sie, so sind wir es gewohnt: diesmal sind es berufene und unberufene Terrorismusexperten, lange, dunkle Schatten werfend …

 


Shit happens
Der Lothar hat sich wieder eingeschissen. Mit seinen fünfzig Jahren sollte ihm das eigentlich nicht mehr passieren, aber was soll er machen, er hat sich einfach nicht im Griff; wenn es kommt, dann kommt es: wie ein Erdbeben, wie ein Orkan ... Wenn es nur nicht wieder am helllichten Tag, auf offener Straße geschehen wäre, unter allgemeinem Naserümpfen, unter Gelächter und Gespött! Der Lothar hätte auch zuschlagen, hätte um sich schlagen können, er hätte in seine Hose greifen, hätte aus dem Vollen schöpfen und seine Beleidiger mit Dreck bewerfen können. Doch anstatt die Nerven zu verlieren, die er nie besessen hat, anstatt Amok zu laufen, strebt der Lothar weniger belebten Seitenstraßen zu, sein Unglück mehr schlecht als recht verbergend, alle paar Schritte stehenbleibend und zum Herrgott flehend, ihn auf der Stelle tot umfallen oder wenigstens unsichtbar zu machen …

Plötzlich tritt sein Schutz- und Racheengel, ein achtschwänziges Tittentier aus einem Hausschatten hervor und faucht … und schwingt seine Schwänze hin und her, dass es zum Fürchten wäre, wenn jemand anderes als der Lothar Zeuge dieser Szene wäre. Der Lothar kennt seinen Pappenheimer, er sieht es seinem Schutz- und Racheengel an, dass dessen spätes Erscheinen mehr einer Gewohnheit, einem lästigen Pflichtgefühl als einem inneren Drang, einer inneren Notwendigkeit geschuldet ist. Und so verwundert und enttäuscht es ihn nicht, als das Tittentier, ein sechsundachtzigjähriger Stubenhocker, seine Bitte, ihm zu helfen und zu rächen, mit einem Griff in die Trickkiste pariert und eine Paradeausrede hervorzaubert, ein Märchen aus tausend und einer Notlüge. Sagt es und verschwindet, und macht sich aus dem Staub und lässt den Lothar, seinen Schützling mitsamt seiner vollen Hose stehen.

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