3 neue short stories von Rüdiger Saß

Samstag, 9. Juli 2016 um 19:28 - futziwolf

Von einer frierenden Frau …
Weltweite Videoüberwachung
Kinder
+ Zwei kurze Nachschläge


Von einer frierenden Frau, ihrem Heizkörper und einem eigenwilligen Bein
Eine frierende Frau fingert an ihrem Heizkörper herum. Da es ihr nicht warm um Herz und Nieren wird, stellt die Frau ihrem Heizkörper ein Bein. Das Bein bedankt sich und geht, es geht seiner Wege und reißt Witze aus dem Ungefähr heraus, aus einem Dickicht vergessener wartender Menschen, Menschen wie Strandgut, wie zerfetzte Regenschirme, zersprungene Kuchenformen … weggeworfen, ausgesetzt, vergessen, aber wartend … und wartend … treu und doof und folgsam … und blond, fast so blond wie Blondi … also so treu und doof wie ein Hund nur sein kann … oder wie ein um seine Entlassung bangender Arbeitssklave … oder wie auch immer ...

Zurück zu unserem Bein! Da Beine, vor allem einzelne Exemplare nicht gehen können, hüpft es seiner Wege. Da aber auch in dieser Aussage logische Untiefen lauern, da allgemein angenommen wird, dass zur Fortbewegung ein Wille wie der Schnürsenkel zum Schnürschuh gehört und Beinen schlechterdings und beim besten Willen kein eigener Wille zugestanden werden kann, soll und darf, seufzt das Bein laut auf, spuckt Blut und geht mit großer Geste auf das Knie, um schließlich um- und hinzufallen und jenen Geist auszuhauchen, der ihm in den Gesetzbüchern der Logik nicht zugestanden wird. Bas Bein fällt um und verschmachtet wie Greta Garbo in ihren besten Zeiten, oder Lino Ventura … oder so ...

Der Frau friert es, obwohl sie nur noch ein Bein ihr „Eigen“ nennt, immer noch. Nur um etwas zu tun, vielleicht in der Hoffnung, dass es ihr dadurch wärmer wird um Herz und Nieren, reißt sie sich ihr „Eigen“, ihr „Ein und Alles“ aus dem Leib und heftet es sich an die Stirn … mit Heftpflaster, mit Heftklammern, mit jeder Menge gutem Willen … Dann robbt sie zum Einkaufen, und alle Leute drehen sich nach ihr um und loben ihren schönen neuen Hut, die Frau verdreht den Leuten so sehr den Kopf, dass sie ihn verlieren und vergessen, wie Strandgut, wie zerfetzte Regenschirme, zersprungene Kuchenformen ... Die Frau aber schlägt die Hände über ihrem Kopf zusammen und macht den Leuten Beine; sie malt sie auf ein unbeschriebenes Blatt Papier.



Weltweite Videoüberwachung
Ein rabenschwarzes Feld, ein Winterfeld, auf dem die Sonne, ein großer, roter, glühender Ball in Scherben fällt, wenn wir es nicht besser wüssten. Die Sonne fällt und zerschellt nicht, sondern verliert sich hinter dem das rabenschwarze Feld begrenzenden Horizont, sie versinkt in einer Felsspalte, ohne Mucks und ohne Murks. Und ich warte auf den Tag, da ich, fern aller Zivilisation, vor einem Schild mit folgender Aufschrift stehe: Achtung! Dieser Wald wird videoüberwacht.

Wenn der Dealer, ein Paradebeispiel geistiger Verwahrlosung, endlich aufwachte, wenn er endlich aus dem Delirium erwachte! Es muss eine lange Nacht für ihn gewesen sein, eine fesselnde, trunkene, gesprächige, eine Nacht, die nicht mit ihren Reizen geizte. Und so bleibt mir nichts als zu warten übrig, in einem Wald, fern aller Zivilisation, vor einem Schild, das auf Videoüberwachung hinweist. Warten, bis die Dämonen des Schlafes verschwunden sind und mit ihnen die bunte Welt der Träume, diese lärmende Parallelwelt, diese Wirklichkeit sui generis: Der gelbe Gabentisch leuchtet so blau wie ein sonnenverbrannter Mohr namens Arierweiß. Dieser friert wie eine Wüstenpalme in der Mittagshitze. Er friert schwitzend, weil er so dick wie ein zeichenübersätes leeres Blatt Papier ist … Sein Hirn ein Klo: schmutzig, stinkend und verstopft. Und das Klo hängt an einer Wäscheleine und davor der Mohr als Teppichklopfer. Er klopft, schwitzend, schmutzig, stinkend und verstopft, er zerklopft das Klo, das in Scherben fällt und sein Sklavenleben verliert, vergisst und isst ...

Diesen Tag überleben, vor einem Schild im Wald, fern aller Zivilisation, der Rest ist nicht wirklich, nicht wichtig, nicht wirklich wichtig, der Rest wird im Schnelldurchlauf durchlebt, zurückgelegt, zurück zu den Akten, meinetwegen auf Wiedervorlage … Durchhalten, bis die Welt ihre Schrecken verliert, wenn sie nicht mehr so wehtut, nicht mehr so schmerzt, nicht auf die Nerven geht, wenn alles wieder so sein wird, wie ich es will, ich, Gott meines Lebens, meines Willens, meiner Welt.

Es nützt nichts, vor dem Lärm der Stadt zu fliehen, in den Wald, fern aller Zivilisation, denn auch dort wimmelt es vor Menschen. Sie suchen nach dem Sinn und Unsinn ihres Lebens, sie stochern in den Komposthaufen ihrer Unwissenheit, ihrer Vorurteile herum, mit hängenden Köpfen, spirituell benebelt und berauscht, unangefochten und unbeleckt von der entzauberten Welt um sie herum. Sie suchen Gott und finden Geld, sie stoßen auf Geschäftsideen. Sie fallen in die Gruben, die sie anderen gegraben haben, eine Versammlung Unförmiger, Unbefugter, fern aller Zivilisation, in einem videoüberwachten Wald, in einem Wald vor einem rabenschwarzen Feld, einem Winterfeld, auf dem, wenn wir es nicht besser wüssten, die Sonne, ein großer, roter, glühender Ball in Scherben fällt.



Kinder
Madame verlässt das Haus. Der Morgen wirkt so einsam, so verloren und verlassen wie ein Selbstmörder, wie eine Hausfrau auf Tablettenentzug, und der Straßenlärm hält sich im Hintergrund, als würde er auf den Morgen Rücksicht nehmen. Madame duckt sich unter einem tief- und trieffliegenden Wolkendickicht und denkt und denkt … an nichts. Bald steht sie an der Bushaltestelle und denkt und denkt … immer noch nichts. Mechanisch nickt sie dem wie immer überquellenden Mülleimer wie einem alten Freund zu, sie zählt die herumliegenden Zigarettenkippen, die ausgespuckten, plattgetretenen Kaugummileichen, und plötzlich schwappen Wellen der Erinnerung in ihr Bewusstsein, vor ihrem inneren Auge tauchen kleine Kinder aus einer Brandung auf, an einen Strand gespülte Kinderleichen, vor aufgehender Sonne, in einem Urlaubsparadies. Madame kneift die Augen zu, Madame wischt die bösen Bilder weg, sie seufzt und denkt, endlich denkt sie: ‚Warum bin ich so sehr mit den Nerven herunter? Weil mein Leben ziel- und sinnlos verrinnt und verläuft, weil ich nicht säe, egge und ernte, weil niemand etwas von mir wissen will?‘ Madame verärgern derlei ungerufene Gedanken, sie klettert in den nächstbesten Bus und ruft: „Meine Damen, meine Herren, Sie sagen nichts, mir jedenfalls nicht. Sie sind nichtssagend, Sie haben mir nichts zu sagen!“ Sagt es und setzt sich, Madame quetscht sich zu einem verschreckten Waschweib in die erste Sitzreihe und starrt aus dem Fenster … und dampft vor Wut, vor Überdruss, vor lauter Langeweile ... Die Leute gehen ihr auf die Nerven, obwohl sie ihr nichts sagen, nicht die Leute, nicht das Leben, aber sie selbst nervt sich am meisten. Sie weiß, dass sie ihr größter Feind, ihr gröbster Kritiker ist. Madame sitzt im Bus und dampft vor Wut, vor Überdruss, vor lauter Langeweile ...  Ihre Augen sind zwar auf die Straßen und Häuserstilleben vor den Busfenstern gerichtet, aber die Wut hat sie geblendet, eine schwirrende, verwirrende Wut auf die Wut. Madame denkt und denkt ... Sie verknäult und verknotet Wörter miteinander, sie verheddert sich in Wortknoten und Wortknäueln, unentwirrbare Satzmonstren, in denen sich der Sinn versteckt wie einst der Vietcong in seinem unterirdischen Bunkernetz, und der Sinn schwindet und verschwindet, wie der Hase im Hut des Zauberers, wie ein Eis in der Hand eines Kindes, eines kleinen Kindes, am Strand, vor aufgehender Sonne ...



Von den Sprechenden und den Lachenden
Sie sprachen in die Sonne, in den Wind, in die Wüste ... Sie sprachen und sprachen, und wir lachten. Wir lachten anstatt zuzuhören, anstatt zu lernen, denn das wollten, konnten, kannten wir nicht. Wir verlachten die, die mit ihrer Bildung wucherten, denn wir wussten, dass ihre Bildung nicht die unsere war, wir spürten, dass uns ihre Bildung unterjochen würde, dass sie uns in ihre Schulen und Fabriken, in ihre Gesetze und Moral einsperren, in ihren Kriegen verheizen würden. Zuerst lachten wir über die Gebildeten und ihre Bildung, dann verbrannten wir sie und lachten und lachten ...



Immer die andern
Immer und überall
Missgünstige Mäuler
Meinungen zum Schleuderpreis
Meinungen wie Fallbeile
Wie Genickschüsse

Gegen Lärm und Gelaber
Helfen Ignoranz und Ohrenstöpsel
Gegen Gestank
Mundatmung
Fest verschlossene
Fenster, Nasen und Türen
Gegen Torheit
Hilft
Einschläfern
!

 

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