DIE ETHIK DES BIOMÜLLS (J.G.)

Freitag, 26. April 2024 um 02:08 - monsignore genickschuss
von j.guthrie
Kalte Treppe, Gitterroste in den ersten Stock. Darunter jener Matsch, den das Ruhrgebiet meist binnen weniger Stunden aus Schnee macht. Herr Gebeugt hatte Angst. Angst, zwei Kinder und einen Kredit am Hals. Er nahm die Stufen noch langsamer als die zur Praxis seines stets gutgelaunten Zahnarztes. Die letzte Niederlage war erst zwei Tage her. Keine Ratenzahlung für die nächste Brücke. "Ich bin doch keine Bank", hatte Dr. Mengele mit breitem Grinsen und einem jovialen Schulterklopfen gesagt. "Da müssen Sie eben mal ein bisschen sparen."
Nicht allzu weit entfernt brüllte jemand "Helau!". Die Jecken turnten durch das Land, auf der Suche nach Bewusstlosigkeit und folgenlosem Ehebruch.
"Bitte nicht! Bitte nicht!", dachte Herr Gebeugt.
Als er schnaufend den Absatz zur stählernen Bürotür des kleinen Programm-Kinos erreichte, fuhr er sich hektisch durch seine sich rar machenden, immer noch blonden Haare. Er zupfte sein Sakko zurecht und sah auf die Uhr. Zehn Sekunden vor zwei. Er war pünktlich. Keine Zeit mehr. Keine Zeit, nur Angst. "Bitte nicht! Bitte nicht!" und dann mit geschlossenen Augen die Klinke runtergedrückt.
Der Tod der armen Würste ist nicht ihre dünne Haut. Ihr Tod sind Zähne, die guten Zähne anderer.
Müller war müde. Er hatte nach einer mäßig erfolgreichen Nacht wieder zu wenig geschlafen und Kaffee und Diät-Cola wirkten schon seit Jahren nicht mehr. Die Füße auf dem Tisch hing er in seinem dicken schwarzen Chefsessel wie ein Stück Scheisse, das die Spülung in der Schüssel vergessen hat. Es war ihm bewusst und störte ihn nicht. Kultur ist doch Genuss und er machte hier unzweifelhaft Kultur. Von einem A1-Poster lächelte Audrey Tautou ihr mädchenhaftes, verträumtes Lächeln. "Fotze", dachte Müller, "geile Fotze."

Während er noch dabei war, ihr kleines Schwarzes bis unter die Achseln hochzuschieben, öffnete sich plötzlich die Tür zu seinem verchromten Thronsaal und mit einer ätzenden Brise nasskalter Luft trat Herr Gebeugt ein, das Gesicht so blass-grau wie der Himmel, der sich teilnahmslos über all dem Gewürge wölbte. "Fuck", dachte Müller. Bis zu diesem Moment hatte er vergessen, dass er sein dürres Gegenüber zu jenem Gespräch zitiert hatte, das er nun führen musste. "Guten Tag", sagte Herr Gebeugt mit gewohnt leiser Stimme, blieb in einem Meter Abstand zu Müllers Schreibtisch stehen und blickte betreten zu Boden, ähnlich einem zehnjährigen Bergmannssohn in Erwartung des Ledergürtels oder einem katholischen Internatsschüler kurz vor der erneuten Vergewaltigung. Dass es hier keine Sitzgelegenheit gab, war durchaus beabsichtigt. Lediglich für besondere Gäste wurde dann und wann ein zweiter Sessel ins Büro gerollt.
"Wurm", dachte Müller. Er hatte diesen Jammerlappen nie gemocht. Der war noch von seiner Ex-Frau eingestellt worden, aber dank eines ausgezeichneten Ehevertrages konnte die ihr soziales Engagement jetzt ja endlich mal auf sich selbst konzentrieren. Widerwillig nahm er die Füße vom Tisch, brachte sich in eine einigermaßen aufrechte Position und kam, ohne den ihm entgegen gebrachten Gruß zu Erwidern, gleich zur Sache.
"Wie Sie wissen betrachten wir uns als ein modernes Dienstleistungsunternehmen..."
"Natürlich. Das ist mir sehr wohl bewusst.", fiel Herr Gebeugt ihm ins Wort, erkannte allerdings noch im gleichen Augenblick sein Vergehen und stieß ein wahrhaft erbärmliches "Entschuldigung!" hervor.
Müller verspürte nicht das geringste Mitleid und wie den meisten Alleinherrschern war ihm Gnade fremd. Da ihm die Anstrengung des nächtlichen, stundenlangen Beackerns einer sexuell gänzlich talentfreien Neunzehnjährigen und die vorangegangene Flasche Whiskey noch schmerzhaft in allen Mit-Dreißiger-Knochen steckten, beließ er es jedoch bei einem genervten Seufzen, ehe er fortfuhr: "Gebeugt, wissen Sie was Ihr Fehler ist?"
Herr Gebeugt schüttelte demütig sein in wenigen Jahren sicher haarloses, ein wenig zu großes Haupt. "Nein", murmelte er in einer Tonlage irgendwo zwischen Schluchzen und Ersticken.
"Sie vermitteln einfach keine angenehme Atmosphäre. Wenn ich schon in einen Film über eine zwangsbeschnittene Afrikanerin gehe, dann will ich doch nicht schon an der Kasse so ein miesgelauntes Kackgesicht sehen. Entschuldigen Sie die Ausdrucksweise, aber Sie wissen was ich meine, ja?"
"Natürlich, natürlich." Alles zugeben, die Schuld auf sich nehmen. Etwas anderes würde jetzt nicht mehr helfen, das wusste Gebeugt. Nur erklären, erklären wollte er es noch. "Wissen Sie diese Zahnschmerzen in den letzten Wochen und..."
"Gebeugt! Jetzt bitte ich Sie!" An jedem anderen Tag hätte Müller die Situation sicher genossen und noch eine Weile ausgekostet, aber heute war er, wie bereits erwähnt, sehr müde und strebte eher ein Schnellverfahren an.
"Darum geht's doch nicht. Jetzt stellen Sie sich nicht dümmer als Sie sind. Sehen Sie mal, ich bezahle Sie hier voll, ja, und was leisten Sie dafür? Ich habe Ihnen das doch oft genug gesagt: Freundlich sein, ja, auch mal Lächeln. Mann, das muss doch gehen. Und dann vergessen Sie auch noch regelmäßig Ihre Dienstkleidung, sind bei der Einteilung der Schichten kein bisschen flexibel..."
"Tut mir leid, tut mir leid!", brach es aus Herrn Gebeugt hervor, dessen Stimme, wenn er sie hob einen ebenso unglücklichen wie unmännlichen Hang zum Schrillen hatte. "Sie wissen doch, meine Frau ist nicht ganz gesund und..."
"Ihre Frau! Hören Sie doch auf, wir haben alle unsere Probleme, ja. Nein, Gebeugt, so sehe ich für Sie hier wirklich keine Perspektive mehr. Das werden Sie doch einsehen, dass ich mit ein paar 400-Euro-Studenten da besser fahre. Kommen Sie. Schauen Sie sich diese jungen Leute mal an. Die sind da ganz anders motiviert."
Herr Gebeugt konnte nicht mehr an sich halten. Mit Knien, die so weich waren, dass sie sich nach dem glänzenden Parkettboden des Büros zu sehen begannen, schluchzte er ein klägliches "Mein Gott... Mein Gott...".
Müller ekelte sich. "Gott, Gott hilft Ihnen da auch nicht. Gibt keinen Gott. Jetzt fassen Sie sich mal wieder. Das ist ja unerträglich. Sie liefern hier morgen ihre Dienstkleidung ab und ansonsten wünsche ich Ihnen alles Gute, ja. Lernen Sie was draus, ja." Das musste genügen. "Fort, fort Du Wurm.", dachte er.
Aber Herr Gebeugt konnte nicht einfach aufgeben. Seine Frau, seine Kinder, der Kredit. Er musste es versuchen, weiterreden, das Ende noch etwas hinausschieben. "Bitte. Ich bin jetzt 41. Ich finde doch nichts anderes mehr. Bitte..."
Müller, der für gewöhnlich nicht mal beim Vögeln Geduld besaß, wurde langsam richtig wütend. Er hievte sich aus seinem Sessel, streifte mit seinem Bauch die gläserne Tischkante, tat sich ein bisschen weh dabei und sagte mit der schneidenden Kälte eines SS-Mannes, der gerade den Weg zu den Duschen weist: "Da ist die Tür."
Und Gebeugt ging.
Das Telephon spielte die Melodie von "The Good, the bad, the ugly". Müller nahm ab. Es war Sebastian, ein Literatur-Professor mit dem er sich gelegentlich zum Squaschen traf. "Hey, Müller. Läuft bei Euch demnächst eigentlich "Fahrraddiebe"? Stefan hat so was erzählt..."
2.
Irgendwann nach dem Telephonat mit Sebastian war Müller eingeschlafen und erst eine halbe Stunde vor Beginn der ersten Vorführung wieder aufgewacht. Die Kopfschmerzen waren weg, aber sein Hemd klebte ihm schweißnass am Rücken. Er ging pissen, drehte danach seine übliche Runde und stellte befriedigt fest, dass alle auf ihren Posten waren. An der Kasse saß heute Nicole. Müller hatte sie vor zwei Wochen, bereits in der Absicht dafür Gebeugt zu feuern, auf Probe eingestellt. Nicole war Anfang zwanzig und studierte im vierten Semester Philosophie und Deutsch. Sie trug ihr blondes Haar zum Pferdeschwanz gebunden, hatte schlanke lange Beine und Brüste, die einen zehnjährigen Knaben sicher nicht dem Spott seiner Mitschüler ausgesetzt hätten. Ihr helles, unverbrauchtes Gesicht bescherte Müller, sobald er etwas länger hinsah, regelmäßig Erektionen. Der kleine Makel der etwas zu langen Nase war ihm jedoch sofort aufgefallen.
Da sich am Eingang bereits eine beträchtliche Schlange gebildet hatte, beließ er es dieses Mal dabei den Fürsorglichen zu spielen und fragte sie nur ob sie denn zurecht käme, nahm sich aber vor sie spätestens nach ihrer nächsten Schicht zum Essen einzuladen. Im Bewerbungsgespräch hatte sie ihm verraten, dass sie schon eine ganze Weile nach einem Job gesucht hatte, der sich mit ihrem Studium vereinbaren ließ und dass sie deswegen manchmal recht verzweifelt gewesen war. "Mal sehen was er ihr wert ist.", dachte Müller und drehte in wenigen Sekunden eine weitere Szene für jenen Endlos-Porno, der seit seinem elften Lebensjahr große Teile seines Gehirns die meiste Zeit des Tages beschäftigt hielt. Er musste Grinsen, bemerkte dabei allerdings zu seiner Verärgerung, dass an seiner Oberlippe, dicht über dem rechten Mundwinkel, ein Pickel zu sprießen begann.
Als Müller um fünf nach sieben das Kino verließ, war er immer noch geil. Er schwang seine auf ein Meter fünfundsiebzig eher schlecht verteilten 95 Kilo in den gut gepolsterten Sitz seines Opel Admiral, zündete sich ne Kippe an und warf einen Blick in sein Portemonnaie. 300 Euro. Die sollten genügen. Das Essen mit den Jungs stand erst um acht an und der Inder war gerade fünf Minuten entfernt. Er hatte also noch Zeit. Er startete den Wagen und fuhr los.
Im Radio erzählte ein Wissenschaftler, dass Liebe vor allem eine Sache der Bio-Chemie sei. "Fleisch", dachte Müller, "alles Fleisch." Im Vorbeifahren sah er, dass noch etwa zwanzig Leute an der Kasse standen, und dass obwohl die Vorstellung längst begonnen hatte. Es gab auf vielfachen Wunsch des Publikums ein weiteres mal "Billy Elliot". Seine Kunden mochten Sozialdramen, besonders solche mit Happy-End. Das waren die Unverbindlichsten.

Kurz hinter dem Zoo, nicht weit entfernt von den Toren der noch hässlicheren Nachbarstadt, fristete auf einem, von der Strasse noch teilweise einsehbaren, kleinen Waldparkplatz der örtliche Billig-Strich sein unsicheres Dasein. Müller war oft daran vorbei gefahren und obgleich er in dem Glauben lebte für Sex nicht bezahlen zu müssen, übte dieser Ort doch eine solche Faszination auf ihn aus, dass er zumeist vom Gas ging und sich darin übte zwischen den Bäumen einzelne Mädchen auszumachen. Dieses mal gab er der Versuchung nach. Er hatte Zeit, Geld und Lust jemandem weh zu tun.
Wie immer nach Einbruch der Dunkelheit fanden die Staus des im Ruhrgebiet wahrhaft tödlichen Feierabendverkehrs in diesem Paradies für Elendsficker jedoch ihre würdige Fortsetzung und er musste sich erst mal hinten anstellen. Sich um die Perspektive des Weltgewandten, der lediglich auf der Suche nach einer weiteren Erfahrung ist, bemühend, beobachtete Müller das geschäftige Treiben. Tatsächlich schien die Nachfrage das Angebot bei Weitem zu übertreffen und jede Preisverhandlung, die die Dreißig-Sekunden-Grenze überschritt, zog ungeduldiges Hupen nach sich. "Arme Wichser", dachte Müller, während er sich die Hose aufknöpfte und von behaarter Haut nur mühsam beherrschtes Fett in die Freiheit entließ. "Haben wohl Schiss nicht rechtzeitig nach Hause zu kommen." Im Radio plärrte Howard Carpendale "Hello again." Es war ihm egal. Endlich erreichte er die erste Frau, eine Schwarze von stämmiger Statur, die seiner Meinung nach besser keinen kurzen Rock getragen hätte und ihm entschieden zu abgenutzt vorkam. Ein paar Schritte hinter ihr, ein wenig versteckt, entdeckte er zu seiner Freude aber ein recht junges Mädchen, dass frierend von einem Bein auf's andere trat, schüchtern auf den Asphalt starte und insgesamt einen wenig routinierten Eindruck machte. Müller rief sie an. "Hey, du, komm mal her!"

Sie erschrak ob seines sehr bestimmten Tones, näherte sich dann aber doch zögerlich dem Wagen. "Wieviel?", fragte Müller und bemerkte dabei, dass sie höchstens achtzehn war. Alles Blut seines verstopften Körpers befand sich nun auf dem beschwerlichen Weg in seinen Schwanz.
Das Mädchen war klein, vielleicht gerade 1,60, doch die Absätze ihrer bis über die Knie reichenden weißen Stiefel, machten sie ein bisschen größer und ließen ihre Beine noch schlanker wirken. Sie war zierlich gebaut und hatte ein Gesicht wie Liselotte Pulver in "Ich denke oft an Piroschka." Mit vermutlich osteuropäischem Akzent sagte sie leise: "80 für alles." Die Gier in Müller schrie: "Kaufen!", der ewige BWL-Student, dem die andere Hälfte seiner Seele gehörte, wollte sich jedoch zunächst vergewissern hier keinesfalls eine Fehlinvestition zu tätigen. "Wirklich alles?", fragte Müller. Das Mädchen gewährte ihm einen kurzen Blick in ihre ängstlichen braunen Augen, sah dann wieder zu Boden und nickte.
"Steig ein!", sagte Müller.
Der Vollzugscontainer war spartanisch eingerichtet. Ein klobiges Metallbett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Waschbecken und vor dem Fenster ein roter Vorhang. Eine braune Stehlampe verbreitete gedämpftes Licht. "Wie heißt du?", fragte Müller barsch. Das Mädchen setzte sich auf's Bett und sagte kaum hörbar "Lisa". Sie versuchte zu lächeln, aber ihr Bauch hatte mehr als eine Ahnung von dem was gleich folgen würde und es gelang ihr nicht. Sie fragte sich ob sie allen Mut zusammen nehmen und selbstbewusster auftreten sollte. Vielleicht würde ihn das abschrecken. Oder es würde ihm um so mehr Freude bereiten sie zu demütigen. Bevor sie zu einem Ergebnis kam, war er schon an sie herangetreten, hatte sie bei den Haaren gefasst, sie auf den Boden gezogen und seine Jeans runtergelassen. Er trug nicht mal Boxershorts und stank nach einer Mischung aus Urin und Schweiß. Sie schloss die Augen, öffnete den Mund und ließ ein, was sie vorfand, während er ihren Kopf vor und zurück bewegte und dabei an ihren Haaren zog, dass es wehtat. Sie musste würgen und spürte das sie zitterte.
"Los, du Fotze, mach schon!", grunzte Müller und konzentrierte sich gleichzeitig darauf nicht zu früh zu kommen. Nach ein paar Minuten grapschte er ihr ins Gesicht und zwang sie aufzustehen. Seine Hand klebte und seine dicken Finger bohrten sich in ihre Wange. Obwohl sie es nicht wollte, schrie sie auf. Müller schob ihr weißes Girlie und ihren BH hoch und begann ihre Brüste zu schlagen. Fester als die einzige Ohrfeige, die sein Großvater ihm je gegeben hatte. "Nicht weinen, nur nicht weinen!", dachte sie und bemühte sich verzweifelt der Sache per Hand ein Ende zu bereiten. Müller sah, dass sie mit den Tränen kämpfte, konnte sich nicht länger beherrschen und ergoss sich, bevor es ihm gelang ihren Kopf wieder nach unten zu drücken, auf den Fußboden. "Fuck!", dachte er. Er hatte noch gar nicht alles getan, was er sich vorgenommen hatte. Sie wollte sich aus seinem Griff lösen, sich wieder anziehen, das Geld nehmen und dann raus, raus in die kalte, klare Abendluft. Atmen, einfach atmen. Müller stieß sie auf's Bett. Jetzt hatte sie nur noch Angst und als Müller sich auf ihr Gesicht setzte wurde aus der Angst Panik. Er hörte nicht auf, er würde einfach weitermachen. Sie wollte um Hilfe rufen, aber all das Fleisch auf ihrem Gesicht erstickte ihren Schrei. Müller hatte schon auf dem Weg hierher einen leichten Druck in der Darmgegend verspürt. Jetzt hatte er nur noch ein Ziel und mit aller Kraft drückte er und wünschte sich nichts sehnlicher als ein bisschen Scheisse aus sich heraus zu pressen. Doch das Glück war ihm nicht hold und alles was er schließlich zu Stande brachte, war ein ziemlich nasser, langer Furz, dessen Gestank sogar ihm selbst die Stimmung versaute. Entnervt gab er auf, zog sich an, holte einen Hunderter aus seinem Portemonnaie und warf ihn auf den Boden.

Lisa lag zusammen gekrümmt auf dem Bett und weinte. Hemmungs- und haltlos. "Mein Gott... mein Gott..."
Es war bloß ein klägliches Wimmern, noch leiser als sie vorhin ihren Namen gesagt hatte, aber Müller hörte es und es trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht. "Was habt ihr heute bloß alle mit Eurem Gott, verdammt noch mal. Da ist nichts. Überhaupt nichts. Blöde Idioten!", brüllte er, um dann, merkwürdigerweise plötzlich in ihm aufkeimende Vatergefühle und seinen Hang zum Zynismus in Einklang bringend, mit ungewöhnlich sanfter Stimme hinzuzufügen: "Weißt du Lisa, es gibt zwei Sorten von Menschen. Die einen haben den Revolver und die anderen graben." In Anbetracht dieser wie er fand sehr geistreichen Bemerkung konnte er sich eines Lächelns nicht erwehren und zog von dannen. Lisa wartete bis sie seinen Wagen wegfahren hörte, stand auf und wusch sich das Gesicht. Sie lebte wo es kein Erbarmen gab und wusste das. Sie hatte sich bloß noch nicht daran gewöhnt.

3.

Der Inder, der eigentlich aus Sri Lanka kam, konnte sich über fehlende Kundschaft nicht beklagen. Das Restaurant war prall gefüllt. Zig deutsche Bildungsbürger schaufelten beherzt seine auf ihren Geschmack abgestimmten Phantasiegerichte in sich rein und glaubten auf diese Weise an einer ihnen unbekannten Kultur zu partizipieren. Dass er sie für bescheuerte Wichser hielt, wie er seinem Bruder gelegentlich anvertraute, ließ er sie nicht spüren. Sogar das In-die-Soße-Spucken hatte er inzwischen aufgegeben. Selbstlos wie er war, gestand er dieses Vergnügen nun seinen Küchenhilfen zu.
An dem großen Sechs-Personen-Tisch am Fenster hatten sich Müller und seine Saufgenossen Tom und Stefan breitgemacht. Sie waren gut gesättigt und mittlerweile beim Schnaps angekommen. Während des Essens hatte Tom, der als aufstrebender Supervisor in einem Vodafone-Callcenter arbeitete, sich zunächst über seine unfähigen Untergebenen und dann über die geile jugoslawische Putzfrau, der er nach Feierabend schon mal gerne an den Hintern fasste, ausgelassen. Müller hatte zwar anerkennend gelacht, sich aber seinen Teil dazu gedacht: "Flasche. So kommst du nie zum Schuss." Stefan, der bei der Dresdner Bank mittelgroße Anleger betreute, war die ganze Zeit auffallend ruhig gewesen. Müller kannte die beiden seit sie gemeinsam die Oberstufe des Heinrich-Heine-Gymnasiums besucht hatten und hatte gleich gemerkt, dass mit ihrem Börsenhengst, wie Tom und er Stefan bisweilen nannten, etwas nicht stimmte. Allerdings wollte er den Grund dafür überhaupt nicht erfahren. Zwar war Müller ein durch und durch missgünstiger Charakter, den das Leid anderer durchaus eine geraume Zeit amüsieren konnte. Für diesen Abend hatte er es jedoch auf eher leichte Unterhaltung abgesehen und außerdem sah er sich gerade außerstande auch nur einigermaßen glaubhaft so etwas wie Mitgefühl für seinen ehemaligen Schulkameraden zu heucheln. Er bemühte sich also die Unterhaltung mit Tom in Gang zu halten, um seinem schwermütigen Gegenüber mit den unverschämt weit herunter gezogenen Mundwinkeln nur ja keine Gelegenheit zu irgendeiner ohnehin bloß peinlichen Jammerorgie zu geben.
"Hattest du eigentlich schon mal ne Polin im Bett, Tom?", fragte Müller, dichtete seine Nuttengeschichte gedanklich bereits zu einem etwas weniger schäbigen Abenteuer um und setzte an um seine leicht angetrocknete Kehle mit einem weiteren Schnaps zu befeuchten.
"Nee", meinte Tom, "aber..."
Weiter kam er nicht, denn plötzlich brach es wie eines dieser unappetitlichen Viecher, die Sigourney Weaver in "Alien 1 bis 4" hinterhersabberten, aus Stefan hervor: "Meine Mutter hat Krebs."
Schweigen. Toms Mund blieb offen stehen. Stefans blaue Augen waren feucht. Er fuhr sich hektisch durch seinen blonden Beckham-Schnitt. Müller kippte den Schnaps runter. "So ein Arschloch", dachte er, "so ein Arschloch."
"Der Krebs hat schon gestreut.", sagte Stefan mit gepresster Stimme und ein paar Tränen schleppten sich an seinen dicken roten Backen hinunter in Richtung Bauch. Stefan hing an seiner Mutter, um die ihn seine Mitschüler früher stets beneidet hatten. Eine gutaussehende Frau, immer akkurat und aufgeräumt und die unangefochtene Nr.1 im Golfclub. Ihr frisches Gesicht und ihr ganzer Körper hatten zu jeder Zeit Energie und Lebensfreude vermittelt, nie waren ihre Züge oder ihre Stimme entgleist. Jetzt fraß sie diese Krankheit und er musste jemandem erzählen von der Verwandlung, die damit einherging, von ihrem Zerfallen.
"Die Nieren sind schon voller Metastasen.... Sie hat Wasser in der Lunge...."
Tom gelang es seinen Mund zu schließen. Wie immer in solchen Situationen glaubte er nicht zu wissen, was er fühlte. Das schützte ihn davor festzustellen, dass er eigentlich überhaupt nichts fühlte. Müller war einfach wütend. Unglaublich wütend. Fast wurde ihm schwarz vor Augen. Dieser Wichser hatte gerade den ganzen Abend versaut und machte überhaupt keine Anstalten endlich damit aufzuhören. Er wollte das alles gar nicht wissen. Er würde noch früh genug an so einem Dreck verrecken. Darüber zu reden brachte nur Unglück.
Stefan schluchzte. "Sie müssen jetzt jeden Tag das Wasser abpumpen..."
"Scheiße!!", schrie Müller und schlug auf den Tisch, so heftig, dass die leeren Schnapsgläser umfielen. Er sprang auf , zeigte auf Stefan, der dreinschaute als hätte man ihm gerade einen Satz Ohrfeigen verpasst, und brüllte: "Du verschissener Egoist! Was fällt dir eigentlich ein? Glaubst du du bist der Einzige hier, der Probleme hat? Kannst du diese Scheiße nicht für Dich behalten? Beschreibst das auch noch in allen Einzelheiten. Das ist ja widerlich..." Er spuckte vor Wut. Ob der Heftigkeit dieses unerwarteten Gefühlsausbruches stand Toms Mund nun wieder weit offen. Ein Speichelfaden verabschiedete sich unbemerkt von seinen Lippen und stürzte in eine ihm unbekannte Tiefe.
"Aber ihr kennt meine Mutter doch auch. Ich dachte...", versuchte Stefan sich zu erklären und sah hilfesuchend zu seinem staunenden Freund, der jedoch weit davon entfernt war vermittelnd ein greifen zu können.
Müller kam langsam wieder runter. "Mann , ich hab deine Mutter das letzte mal vor zehn Jahren gesehen. Menschen sterben nun mal. So ist das, ja. Ist nicht schön, aber nicht zu ändern. Jetzt reiß dich mal zusammen." Müller fand seinen Ton jetzt schon wieder versöhnlich. Auf Stefan schien das anders zu wirken, denn er stand hastig auf , stammelte: "Mein Gott, was bist du für ein Schwein, mein Gott...", drehte sich um und stürzte ohne zu zahlen aus dem Restaurant.
"Scheiss-Gott!", dachte Müller.
"Was hat der denn jetzt? Kann man hier nicht mal mehr sagen was man denkt?"
Tom hatte seine Fassung zurück gewonnen und antwortete betont vorsichtig: "Na ja, du warst grade schon ein bisschen hart, weißt du."
"Hart. Die Geschichte war hart, ja." Müller setzte sich wieder hin.
Sie bestellten noch zwei Bier, aber die gute Stimmung war zerstört. Nach einer halben Stunde zahlten sie, verabschiedeten sich vor dem Restaurant und fuhren nach Hause.
Im Radio sang Patti Smith "because the night belongs to lovers." Müller war müde. Einmal im Bett schlief er schnell ein und träumte von Nichts.
In dieser Nacht ist nicht mehr viel passiert. Herr Gebeugt hat weder sich noch seine Familie umgebracht. Er hat bis zum Morgen wach gelegen und sich dann auf Arbeitssuche begeben. Von seiner Zukunft soll hier keine Rede sein. Lisa hat ihre Schicht nach der Vergewaltigung beendet, hat geweint, geduscht, sich erbrochen und ist irgendwann erschöpft in einem Traum verschwunden. Zwei Tage später stand sie wieder auf dem Parkplatz hinterm Zoo. Es gibt zwei Sorten von Menschen. Die einen haben Geld. Die anderen müssen alles dafür tun. Stefan hat Müllers Nummer nicht aus seinem Handy gelöscht. Er hat sich gesagt, dass es Müller bestimmt selbst nicht gut ging und sich vorgenommen, sich in Gegenwart seiner Freunde nicht mehr so gehen zu lassen.
Ihr seht: Keine großen Katastrophen, nur ein Stück Leben. In der besten Gesellschaft von allen.

Trackbacks

    Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: (Linear | Verschachtelt)

    Noch keine Kommentare


Kommentar schreiben


Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.
Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

BBCode-Formatierung erlaubt