WARUM DENKEN ???

Donnerstag, 28. März 2019 um 03:54 - futziwolf

 


Charles Trenet - la mer

Nach einem langen und kalten Winter in Duisburg stehe ich, von der Freundin zu diesem Kurzurlaub netterweise genötigt, an einem felsigen Strand im Golf von Korinth und bereite mich bei 10° Wassertemperatur auf mein alljähriges Osterschwimmen vor... Die warme Frühlingssonne, die gelbe Sau, und das salzige Meerwasser werden meine Haare weiß bleichen und ich sehe endlich so alt aus wie ich bin... "die schwerkraft ist überbewertet" - pfeifend latsch ich zum Supermarkt des Dorfes um meinen Durst mit griechischem Bier zu löschen... Auf dem Weg zum Bier bleib ich an einem der vielen weißgekälkten Häuser stehen, weil ich mich darüber wundere warum plötzlich alle Vögel mitpfeifen...
Alle Fenster, Balkone, Terassen und Wände des sonst recht einfachen Hauses sind vollbehangen mit Vogelkäfigen nebst krakelendem Inhalt... Im ganzen Dorf steht sonst Haus neben Haus, direkt 5 Meter entfernt an der bürgersteiglosen langen Strasse. Doch neben dem Käfigbehangenen Haus liegt ein großes parkähnliches Grundstück, das von der Strasse aus bis zum etwa 40 Meter weiter hinten liegenden Haus recht protzig bewaldet ist... und mittendrin steht ein riesiger rostiger Pavillion der einen einsamen Pfau beherbergt... Eine Stunde später stehe ich 500 Meter weiter im Landesinneren auf einer Terasse und blicke auf das Dorf mit den beiden Vogelhäusern. Mein in jungen Jahren durch Drogenkonsum verseuchtes und dadurch assoziativ geschultes Gehirn lässt mich gleichzeitig an meine Oma, Bier und die neue Rubrik "filosofie" im aponauten und ihr erstes Thema "Todesstrafe" denken. Nachdem ich mir ein griechisches "Mythos"-Bier geöffnet habe, entscheide ich mich für den Assoziationsstrang "Todesstrafe". Intuitiv ahne ich dass das Bild der beiden Vogelhäuser dafür steht, dass mir die Auseinandersetzung mit dem Thema Todesstrafe alleine nicht reicht. Das Verrückteste an den beiden nebeneinander liegenden Vogelhäusern ist, dass sie sich zwar im sozialen Status voneinander abgrenzen, aber für das gleiche System stehen. Sowohl "Bonze" als auch "Arbeiter" halten sich ihre Vögel im Käfig. Sie stehen für eine Kultur, in der es einen Unterschied macht, wie man Leben verwaltet, aber nicht, dass man Leben verwaltet. Vielleicht fragt sich der aufrecht gehende Leser, was eingesperrte Vögel mit der Todesstrafe zu tun haben. Das hab ich mich ja auch gefragt. Zunächst fällt mir meine Oma im Altersheim "Feierabend" ein. Und dass ich mir auch schon immer recht verwaltet vorkomme.
Ok, hier angekommen und die vormittägliche korinthische Sonne und Laune ordentlich verdorben, kann ich's euch ja jetzt endlich sagen: Ich sehe keinen Unterschied zwischen der Kultur, Vögel zu halten, Straftätige einzusperren, oder Todesstraftätige zu entsorgen (Straftäter einzusperren oder zu entsorgen. - Straftätige zu Tode zu entsorgen). Das hat alles mit Verwaltung von Leben zu tun.

Warum denken? Oder wie denken? Wozu? Warum zielgerichtet - die Endlösung der Vernunft? Kann man Gerecht sein ohne jemanden zu schaden? Gewinne kann man jedenfalls nicht machen ohne jemanden zu schaden! Wozu Systeme - wozu Strukur? Sind all die von Verwaltung geprägten Muster (alles also?) nicht Notlösungen, die selbstverständlich und alternativlos wiederholt werden? Wieso also Strafvollzug? Wieso Todesstrafe? Hab ich außer Fragen zu stellen auch Antworten?
Was ist filosofie? Warum denken?


Soviel zu dem, was
filosofie sein kann.
Hier sind alle aufgefordert "gegen den Strich zu lesen"
und die Signifikanten tanzen zu lassen.


zur weiteren Diskussion eine Buchempfehlungen vom aponauten: Überwachen und Strafen - die Geburt des Gefängnisses von Michel Foucault bei suhrcamp
- http://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Foucault


Den Anfang machen zwei Beiträge zum Thema Todesstrafe : Kristian Aholt versus Wolfgang Weimer


EINE DISKUSSION ÜBER DIE TODESSTRAFE (2006)


wolfgang weimer: Eine Diskussion darüber, ob der Staat ein Recht darauf hat, bestimmte Menschen mit dem Tode zu bestrafen, oder ob das Recht eines jeden Menschen auf Leben dies verbietet, muß mit der Frage beginnen, woher Menschen überhaupt Rechte haben. Die Quelle dieser Rechte wird auch die Grenze dieser Rechte klarmachen.
Ich sehe drei mögliche Quellen von Rechten:
1. Sie wurden uns von Gott, unserem Schöpfer, verliehen. Als Ungläubiger ziehe ich dies nicht ernsthaft in Betracht, möchte aber darauf hinweisen, daß von einer solchen Verleihung ja irgendwo in einer der Heiligen Schriften berichtet werden müßte. In Frage kommen also die Thora, das Neue Testament und der Koran. Thora und Koran fordern die Todesstrafe in gewissen Fällen, das Neue Testament zieht sie nicht ausdrücklich in Zweifel; insbesondere beruft sich Jesus im Angesicht seiner eigenen Hinrichtung nicht darauf, niemand dürfe rechtmäßig hingerichtet werden. Zur Thora: Das 5. Gebot (Exodus 20, 13) mit "Du sollst nicht töten!" wiederzugeben, ist ein Übersetzungsfehler; gemeint ist: "Du sollst nicht morden!", was man auch daran erkennen kann, daß es wenig später (Exodus 21, 13) heißt: "Wer einen Menschen schlägt, so daß er stirbt, soll getötet werden." (Vgl. ebenso Leviticus 24, 17). Die Thora kennt sogar eine ganze Reihe von Delikten, für welche die Todesstrafe vorgeschrieben ist. Es scheint also auch für Gläubige schwer, sich bei ihrer Ablehnung der Todesstrafe auf eine Heilige Schrift zu berufen.
2. Sie werden Menschen von einem dazu eingerichteten Staatsorgan (der Gesetzgeber) verliehen oder abgesprochen, und was immer dieses Staatsorgan bestimmt, ist Recht, nämlich positives (d.h. gesetztes) Recht : es gilt in dem betreffenden Staat. Aus dieser Auffassung "Recht ist, was als Recht von der zuständigen Instanz festgelegt worden ist" ergibt sich natürlich kein prinzipielles Argument für oder gegen die Todesstrafe; man schaut im Gesetzbuch nach, ob sie drin steht oder nicht. Der Gesetzgeber kann sich bei seiner Entscheidung von allerlei Erwägungen leiten lassen, insbesondere die, ob er mit der Einführung der Todesstrafe wohl seine Ziele erreichen wird oder nicht. Diese Ziele sind naturgemäß bei einem Diktator etwas andere als bei einer Demokratie; aber im Sinne eines positiven Rechts ist eine Demokratie nicht absolut besser als eine Diktatur (dazu bräuchte man einen absoluten Maßstab) : sie setzt lediglich ein anderes Recht. Ich bin kein Anhänger einer positiven Rechtsauffassung, aber unter Juristen ist sie dominierend, vermutlich aus Zweifel an der Existenz eines absoluten Maßstabes.
3. Rechte erlangen Menschen durch einen (zunächst stillschweigenden) Gesellschaftsvertrag. Dieser Vertrag besagt: Ich stelle mich um meiner Selbsterhaltung, meiner Sicherheit und meines Wohlstandes willen unter die Leitung einer staatlichen Instanz, und zwar unter der Bedingung, daß dies auch für alle anderen Gesellschaftsmitglieder in gleicher Weise gilt. Diese staatliche Instanz ist der Souverän. Aus der Diskussion, um wen es sich dabei genau handelt, sind zwei ernsthafte Kandidaten hervorgegangen: (a) die Mehrheit des Volkes (= Demokratie) und (b) "der allgemeine Wille", d.h. "das Gesetz", d.h. die Grund- und Menschenrechte (= Republik). Im Falle der Demokratie hat die Minderheit Grund, sich allerlei Sorgen zu machen, und im Hinblick auf die Todesstrafe kommt es dann darauf an, was die Mehrheit dazu beschließt. Im Falle der Republik darf die Mehrheit nur auf der Grundlage bestehender, für alle Menschen geltender Rechte entscheiden; beruhigender für die Minderheit und anscheinend unvereinbar mit der Todesstrafe, hat doch jeder Mensch : wenn irgendeines : das Recht auf Leben.


Ich klammere die Frage aus, wer den Menschenrechtskatalog im Detail festlegt (Jean-Jacques Rousseau, der "Entdecker" des allgemeinen Willens und damit des modernen Konzepts von Menschenrechten, hat dazu eine Formel geliefert); ich erwähne hingegen, daß jeder diesen Gesellschaftsvertrag stillschweigend schließt in dem Augenblick, in dem er sich : wahrscheinlich schon als Kind : erstmals auf sein Recht beruft ("Der Teddy gehört mir!") und damit auf ein Prinzip, dem der andere nur dann freiwillig zustimmen wird, wenn es für ihn gleichermaßen gilt: Man hat mit anderen Worten nur dann die Möglichkeit, sich auf ein Recht zu berufen, wenn man das gleiche Recht des anderen respektiert. Das macht den Charakter des Vertrages aus.
Und damit sind wir bei der Frage der Todesstrafe. Wenn jemand einen Mord begeht, dann verletzt er das Recht seines Opfers auf Leben und büßt damit die Möglichkeit ein, sich zu seinem eigenen Schutz auf dieses Recht auf Leben zu berufen. Denn er hat durch sein eigenes Handeln das Prinzip geleugnet, das er nun zu seinem Schutz in Anspruch nehmen möchte. Das ist ebenso unplausibel, wie wenn ein Lügner plötzlich, sobald es um seine Interessen geht, sich auf eine allgemeine Pflicht zur Aufrichtigkeit beruft. Ein Vertrag funktioniert eben immer nur auf der Basis beiderseitiger Verpflichtungen, und wer einen Vertrag bricht, kann sich nicht mehr auf ihn berufen.
Dies ist das beste, das stärkste Argument für die Todesstrafe, das ich kenne. Allerdings muß ich hier einige Einschränkungen machen, bevor jemand die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Tagesordnung setzt: - Aus dem Umstand, daß ein Mörder sein Recht auf Leben einbüßt, folgt nicht, daß andere Menschen nun die rechtliche Pflicht hätten, ihn zu töten; vielmehr hat der Mörder den Vertrag gebrochen, wodurch seine Vertragspartner wieder die völlige Handlungsfreiheit erhalten: sie können ihn töten, sie können es auch aus bestimmten Gründen, die ihnen freistehen, bleibenlassen.
- Der Täter (also in diesem Falle: der Mörder) muß als Täter eindeutig überführt werden, seine Schuld und seine Verantwortlichkeit müssen ihm nachgewiesen werden. Erst dann gilt er als jemand, der den Vertrag gebrochen hat. Ein solcher Nachweis ist im günstigsten Falle "ohne jeden vernünftigen Zweifel" möglich und selbst dann nicht absolut unbezweifelbar. Zwar muß jede Gesellschaft, um überhaupt ein Rechtssystem etablieren zu können, Entscheidungen im Rahmen menschlicher, d.h. eingeschränkter Gewißheit treffen; aber es ist doch eine ebenfalls vernünftige Überlegung, daß angesichts dieser Rest-Unsicherheit eine Strafe, die prinzipiell - auch im Falle eines Justizirrtums - nicht wiedergutzumachen ist (wie bei einer Haftentschädigung), nicht verhängt werden sollte. Niemals. Und wie soeben gesagt, steht der Gesellschaft dieser Verzicht als Option offen, weil es keine rechtliche Pflicht zur Todesstrafe gibt.
- Jeder Mensch stimmt ursprünglich der Gesellschaftsvertrag zu um seiner Selbsterhaltung, seiner Sicherheit und seines Wohlstandes willen, die ohne staatlichen Schutz gefährdet bzw. gefährdeter wären. Widerspricht dann nicht jede schwere Bestrafung eines Menschen dessen ursprünglicher Absicht? Nicht unbedingt. Vor allem dann nicht, wenn die Strafe die Funktion hat, den, der ein Menschenrecht und damit den Gesellschaftsvertrag gebrochen hat, durch eine Buße wieder in den Stand zu bringen, daß die Gesellschaft ihn als freien Menschen mit allen Rechten erneut akzeptieren kann: Ja, du hast unsere Rechte gebrochen, dies aber durch deine Strafe wiedergutgemacht, und nun können wir auch deine Rechte wieder achten. In diesem Falle hat der Täter von der Strafe einen Vorteil im Sinne seiner ursprünglichen Absicht; er kann trotz seiner eigenen Tat sich und seine Rechte wirksam schützen, indem er die Strafe akzeptiert. Dies gilt aber nicht und kann auch nicht gelten für die Todesstrafe; denn ohne zu leben, kann er kein Recht wiedergewinnen. Die Todesstrafe ist also eine grundsätzliche und unwiderrufliche Kündigung der Rechtsbeziehungen. Jeder Mensch hat also guten Grund, keinen Mord zu begehen: er macht sich selbst dadurch rechtlos; hat aber jemand einen Mord begangen, hat er keinen guten Grund, die Todesstrafe zu akzeptieren. Da ist es besser, vogelfrei zu sein. Und die Gesellschaft kann eine "normale" Strafe damit rechtfertigen, daß sie letztlich auch dem Wohl des Bestraften dient : nicht aber die Todesstrafe.



Es gibt also auch gute Gründe gegen die Todesstrafe : Gründe, die mit mangelnder Effektivität oder einem verschwommenen, eher gefühlten Humanitätsgedanken ("unmenschlich!") nichts zu tun haben. Ich hätte : um zwei extreme Beispiele zu nennen : nichts Unmenschliches darin gesehen, wenn Hitler und Stalin hingerichtet worden wären, auch dann nicht, wenn sie sich vor der Hinrichtung vor Angst in die Hose gemacht hätten oder die Falltür des Galgens geklemmt hätte. Aber ich kann diese Rest-Unsicherheit nicht ausschließen, daß sie vielleicht einen Hirntumor hatten und deshalb für ihr Tun nicht verantwortlich waren. Auch manches andere kann ich nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen. Daher würde ich auch Leute wie Hitler und Stalin nicht hinrichten; sie nicht und niemanden sonst. Aber es ist den Hinweis wert: Allem Anschein nach kennen weder die Hitlers noch die Stalins noch die meisten "normalen" Mörder solche Skrupel. Vielleicht macht uns gerade der Verzicht auf die Todesstrafe besser als sie.

Kristian Aholt antwortet: Das ist ein sehr schöner Schlusssatz, und ich möchte ihn direkt einmal aufgreifen. In moralischer Hinsicht hebt sich der Staat gegenüber dem Mörder auf eine höhere Stufe, wenn er hier nicht Gleiches mit Gleichem vergilt, sondern weiterhin dessen Leben respektiert und ihm eine Chance auf Wiedergutmachung bzw. Resozialisierung gibt.
Die Beispiele Hitler und Stalin anzuführen, ist natürlich gewissermaßen ein echter Härtetest. Du betrachtest die beiden vermutlich als Krone der "Unmenschlichkeit", auch wenn dieser Begriff sehr schwammig ist (ein Pessimist oder Misanthrop müsste diesen Begriff ablehnen, nicht aber ein Moralist). Es gibt aber mit Sicherheit etliche Gegner der Todesstrafe, die in diesen beiden Fällen einer Hinrichtung zustimmen würden : etwa mit dem Verweis auf den "Tyrannenmord".
Es existiert ja auch im Kriegsrecht die Möglichkeit zu einer legitimen Tötung. Wo vormals der Staat das Subjekt geschützt hatte und das "Recht auf Leben" an erster Stelle stand, tritt hierbei ein Recht der Verhältnismäßigkeit in Kraft, bei dem genau abgewogen wird, ob die in Kauf genommenen Tode in einem akzeptablen Verhältnis stehen zu den Leben, die gerettet werden können. Deswegen gibt es auch niemals unzählige Gerichtsprozesse im Falle der so genannten "Kollateralschäden" (ein Begriff, zynischer als Gesichtsmortadella, würde ein bekannter Kabarettist jetzt sagen). Auch feindliche Herrscher und Anführer dürften also "ungestraft" getötet werden.
Außerhalb des Kriegsrechtes gibt es noch den "finalen Rettungsschuss", bei dem zum Beispiel ein Polizist einen Geiselnehmer gezielt töten darf, um das Leben Unschuldiger zu retten. Aber bereits hier ist es sehr fraglich, ob dies nun wirklich der letzte Ausweg war (oder ob es ein Beinschuss genauso getan hätte) und ob der Beamte überhaupt über Leben und Tod entscheiden darf (ein "gezielter" Schuss ist ja etwas anderes als ein "erwiderter" Schuss). Im Falle eines "Tyrannenmordes" ist die Situation ähnlich, er geht allerdings nicht vom Staat, sondern vom Souverän, also vom Volk aus.
In Deutschland haben wir seit 1968 im Grundgesetz ein solches Widerstandsrecht, das es den Deutschen erlaubt, im äußersten aller Fälle einen Umsturz zu erzwingen, wobei die Tötung eines Despoten nicht ausgeschlossen wird. Eine staatlich durchgeführte Todesstrafe ist das natürlich nicht. Diese könnte es hierzulande auch gar nicht geben, solange im Grundgesetz die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht verankert sind. Aufgrund dieser wäre es sittenwidrig, einen Menschen zum Objekt zu degradieren, indem man ihm der Möglichkeit beraubt, sich zu rehabilitieren und nach seiner Strafe wieder ins gesellschaftliche Leben eintreten zu können. Daher gibt es auch keine Haftstrafe, die wirklich lebenslänglich ist : eine lebenslange Freiheitsstrafe dauert maximal 25 Jahre. Gerhard Schröder, unser Exkanzler und neuer Pipelinemogul, forderte ja einst vehement, besonders schwere Fälle einfach "wegzusperren". Für so jemanden käme theoretisch vermutlich auch die Todesstrafe in Betracht, denn wer "weggesperrt" wurde, ist auf der "anderen Seite" und kommt nicht mehr wieder, ob diese Seite nun der Tod oder ein Gefängnis ist.
Als sittenwidrig hat auch ein Strafrechtler namens Cesare Beccaria die Todesstrafe im Gesellschaftsvertrag von Rousseau bezeichnet. Er führt dazu folgendes Argument an: "Die Todesstrafe steht mit dem Gesellschaftsvertrag in Widerspruch, weil das Leben ein unverzichtbares Rechtsgut, der Selbstmord verwerflich und die selbstmörderische Einwilligung in die Todesstrafe im Gesellschaftsvertrag also wider die guten Sitten und folglich nichtig ist."

Dies ist nun erneut ein moralischer Ansatz, der sich auf ein Lebensrecht sowie gesellschaftliche Werte beruft, und doch kommt man kaum um ihn herum. Überhaupt ginge ein Gesellschaftsvertrag rousseauscher Prägung an der Realität vorbei. So sehr er auch durch eine, in ihrer logischen Einfachheit geradezu perfide Konsequenz besticht, so wenig hat er mit den Mechanismen und Strukturen zu tun, die in modernen europäischen Zivilisationen vorherrschen. Ein solcher Vorstoß Rousseaus würde wohl bereits auf seinem ersten, notwendigen Schritt in Richtung medialer Öffentlichkeit an einem Diskurs scheitern, der fest auf ethischen und moralischen kulturellen Grundlagen steht. Man müsste schon an die niedersten Instinkte der Menschen appellieren, um die Todesstrafe wieder einzuführen, wie es zuletzt in ähnlicher Form im Dritten Reich funktioniert hat. Dort bereicherte sich noch eine Mehrheit des Volkes an den materiellen Enteignungen der Juden, die deutsche Gesellschaft verkam zur Zustimmungsdiktatur (zu lesen in Götz Aly: "Hitlers Volksstaat") und ließ das Regime gewähren.
Aber es existieren in unseren Kulturkreisen bereits viele Verträge, die nicht mehr hinterfragt oder bestätigt werden müssen, weil sie längst als "gut" oder "richtig" gelten und den Menschen quasi in Fleisch und Blut übergegangen sind. Ob man will, oder nicht, (fast) jeder von uns verhält sich meist so, wie es bestimmte soziale Regeln für die jeweilige Situation von vornherein festgelegt haben. So etwa bei rituellen Feierlichkeiten : niemand tanzt und lacht auf Beerdigungen (ja, schade eigentlich). In anderen Kulturen geschieht dies sogar richtig professionell : dort gibt es sogar angeheuerte "Klageweiber".
Die Gabe und ihre Erwiderung, der Respekt vor dem Leben und dem Eigentum anderer (Stichwort: "Goldene Regel") und das Versprechen, das man einhält - das alles wird, wenn auch nicht immer und von jedem eingehalten, so doch stark gesellschaftlich sanktioniert. So herrschen unausgesprochene soziale Spielregeln, sich in bestimmten Rahmen und Bahnen zu verhalten und zu handeln.
Eine Todesstrafe, ob sie nun religiös begründet ist (siehe Wolfgang Weimer, Punkt 1) oder ob sie einem Gesellschaftsvertrag nach rousseauschem Vorbild entspringt (Punkt 3), scheint mir immer ein gewaltiger Schritt zurück in archaische Zeiten zu sein, der moralische und soziale Strukturen und Automatismen moderner Gesellschaften ignoriert, an der Realität vorbeigeht und deshalb keine Alternative zu geltendem Recht und Normen darstellt. Rousseaus Ideen sind schlicht und einfach überholt. Sie stammen aus dem 18. Jahrhundert, einer Zeit der Feudalherrschaften und kultureller Umbrüche (gerade in Frankreich). Wie leicht sie sich missbrauchen ließ, zeigte das Beispiel Robespierres, der unter Berufung auf jenen Gesellschaftsvertrag seine Gegner vor die Wahl stellte, ihre Überzeugungen zu ändern oder zu sterben, und so Tausende hinrichten ließ. Rousseau nannte er stets seinen Mentor. Selbiges gilt für das mythisch aufgeladene, häufig dogmatische Regelwerk einer Heiligen Schrift. Wer sich hier auf die Bibel berufen wollte, fände bald den Leitsatz: "Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht." (Gen 9, Vers 6). Die Todesstrafe gliche einer Sühneleistung, die mit staatlicher Willkür und einer fatalen Rechtsunsicherheit einherginge. Die oben kurz umrissene Moral unserer Gesellschaft mag zwar christlich stark geprägt sein, hat aber in ihrer sozialen, alltäglichen Bedeutung die institutionelle Religion längst abgelöst.



Chanel Guillotine (Breakfast Nook) 1998, by tom sachs http://www.tomsachs.org/works/chanelguillotine.htm
comics von Heyoka aus "Blut im Stuhl", http://www.bis-magazin.de

zur weiteren diskussion einige buchempfehlungen von Matthias Domdey: Fragen der Zeit von Albert Camus Über die Regierung von John Locke.

 

 

 

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  1. der aponaut wird vier jahre alt !!!

    ... nach einem jahr und vier printausgaben wurde die papierversion des aponauten eingestellt und am 04.05.2006 als e-mag wiedergeboren ... ** Der erste Artikel WARUM DENKEN ??? in filosofie ** GEFEIERT wird natürlich auch und zwar im T5 am 08.05.

  2. The world goes crazy!

    Bei den zu erwartenden Überwachungsmaßnahmen, nicht nur für Straftäter, möchte man sich doch schon fast freiwillig zur Unperson erklären! weiterlesen: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/27/27064/1.html hierzu auch mal wieder: warum denken ??? und: Übe

  3. Der Staat als Mörder

    ... Ich sehe keinen Unterschied zwischen der Kultur, Straftätige einzusperren, oder Todesstraftätige zu entsorgen (Straftäter einzusperren oder zu entsorgen. - Straftätige zu Tode zu entsorgen). Das hat alles mit Verwaltung von Leben zu tun...Im US-Bunde

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